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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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trug, schreckte zurück und hielt sich die Stummelfinger an die Brust wie ein Eichhörnchen. »Du lieber Gott! Hoffentlich geht’s im Speisesaal ein bißchen zivilisierter zu«, sagte er und ging davon.
    Nellie sah ihn in den Speisesaal verschwinden – einen Raum, dessen Besucher zusammengenommen mehr Geld aufbrachten als das Bruttosozialprodukt vieler Länder und deren Macht und Einfluß sich auf die Politik im In- und Ausland auswirkte. Der Neid in Nellies Augen war unübersehbar. »Wieso wird Hylton in diesen Club aufgenommen und ich nicht?« fragte sie Will.
    »Weil er, ob Sie es glauben oder nicht, aus einer angesehenen Familie stammt, und außerdem ein Mann ist.«
    »Das wäre zu hinterfragen«, schäumte Will junior.
    »Er hat Frau und Kinder. Sie leben in New Jersey«, warf Nellie ein.
    »Das kann ich ihnen nicht verdenken«, antwortete Will junior. »Ißt du mit uns, Vater?«
    »Ich fürchte, ich kann nicht. Ich erwarte Gäste. Carnegie und Frick.«
    »Ich würde gern wissen, wie es gelaufen ist. Gleich morgen früh komme ich in deinem Büro vorbei. Wiedersehen, Vater.« Zu Nellie gewandt, sagte er eisig: »Miss Bly.«
    Als er wegging, kam wütend der Oberkellner auf sie zu. »Miss Bly, ich hab Ihnen schon hundertmal gesagt, daß Damen im Union Club keinen Zutritt haben«, sagte er und nahm sie am Ellbogen.
    Sie riß sich los, leerte ihr Glas und stellte es auf die Bar zurück. »Danke für den Scotch, Will. Sieht aus, als würde mich der Leichenfresser aus diesem Mausoleum werfen.«
    »Miss Bly, ich bestehe darauf, daß Sie die Räumlichkeiten sofort verlassen!«
    »Schon gut, kriegen Sie sich wieder ein. Ich weiß, wann ich unwillkommen bin.«
    »Kaum, Nellie«, sagte Will lächelnd. Er beobachtete, wie sie ging, nicht ohne dabei ständig auf den unglücklichen Oberkellner einzuhacken. Als sie fort war, sah er sich im Union Club um. Mausoleum! So war ihm sein Club noch nie vorgekommen, aber Nellie traf den Nagel auf den Kopf. Zwei ältere Männer schlurften in Dinnerjacketts vorbei und schrien sich an, weil sie schwerhörig waren. Werde ich auch hier sein, wenn ich siebzig bin? fragte er sich. Hier rumstolpern, mein Essen mümmeln und herumspuken wie ein altes Gespenst?
    Er betrachtete die anderen Männer um sich herum – Freunde und Kollegen –, wie sie sich um die Bar drängten oder in den Speiseraum gingen. Sie verbrachten ihre Abende hier, nicht zu Hause. Weil es dafür keinen Grund gab. In ihren Ehen gab es keine Liebe und keine Leidenschaft, in ihren Betten keine Wärme. Er kannte das, bei ihm war es nicht anders gewesen. Ihr Herz gehörte dem Geschäft, nicht ihren Frauen. Deshalb waren sie alle so verdammt reich.
    Falls er diese Art von Verbindung wollte, konnte er sie leicht haben. Seine Schwester und die Freundinnen seiner verstorbenen Frau hatten sich aufs Arrangieren von Ehen verlegt. Wenn er sich ihren Vorstellungen beugte, wäre er wieder mit einer Frau verheiratet, wie es seine eigene gewesen war – sozial angesehen, altes Vermögen, gut erzogen –, und würde die gleiche langweilige, unbefriedigende Ehe führen, die er hinter sich hatte. Seine neue Frau wäre ihm sozial gleichgestellt. Eine Partnerin. Bestenfalls eine Freundin. Sie würde, wie Anna, seine sexuellen Ansprüche klaglos ertragen, aber nie einen Anflug von Begierde oder Lust zeigen, weil sich das nicht gehörte. Geschlechtliche Liebe war unanständig und vulgär und nur zum Zeugen von Kindern da.
    Wenn er eine Affäre mit einer Frau wollte, die Spaß am Sex hatte, müßte er eine Geliebte nehmen, wie er es in der Vergangenheit oftmals getan hatte. Er und seine Frau würden getrennte Leben führen, hätten getrennte Schlafzimmer.
    Aber, bei Gott, wenn Fiona sein wäre, gäbe es keine getrennten Schlafzimmer. Er würde jede Nacht mit ihr schlafen, dann neben ihr einschlafen und ihren süßen Duft einatmen. Am Morgen würde er sie wach küssen und beobachten, wie wieder Leben in diese wundervollen Augen kam, er würde zusehen, wie auf ihrem Gesicht ein strahlendes Lächeln erschiene, nur für ihn. Wie das wohl wäre, fragte er sich. Das Leben mit einer Frau zu verbringen, die man leidenschaftlich liebte? Das hatte er nie erlebt. Er war jetzt fünfundvierzig Jahre alt und hatte nie erlebt, wie es sich anfühlte, verliebt zu sein. Aber jetzt wußte er es. Nichts und niemand hatte je sein Herz so berührt, wie sie es tat.
    Wieder ging die Tür auf, und Will sah, daß Carnegie und Frick eintraten, und der Ausdruck auf ihren

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