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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Situation retten zu können, führte Mary alle ins Wohnzimmer und bat Michael, Drinks zu servieren. Ian, dem ein Glas Sherry erlaubt worden war, nahm einen zu großen Schluck und wäre fast erstickt. Alec wurde beschwipst und erzählte einen abgedroschenen Witz. Schließlich lenkte Nick, wie immer ihr Retter, das Gespräch auf die Untergrundbahn, und alle beteiligten sich daran. Michael, der in seinen Anfangsjahren als Kanalarbeiter gearbeitet hatte, interessierte sich für die technischen Aspekte. Mary erkundigte sich nach der Sicherheit des Systems. Ian wollte wissen, wie schnell die Züge fahren würden. Und dann sah Fiona auf die Uhr und rief aus, daß es schon fast acht sei und sie gehen müßten. Glücklicherweise hatte sie ihren Onkel überzeugen können, Mary als Anstandsdame mitzunehmen und nicht ihn.
    Kaum waren sie im Restaurant, wurden sie von Leuten umringt. Ein Mann nahm Wills Mantel und Hut, ein anderer Fionas Umhang. Gäste blieben stehen, um mit Will zu plaudern. Er schien alle zu kennen. Innerhalb weniger Minuten hatten Fiona und Mary den Bürgermeister, die Sängerin Adelina Patti, Mark Twain, William Vanderbilt, den Architekten Stanford White und Victoria Woodhull, die skandalöse Verteidigerin der freien Liebe, kennengelernt. Delmonico’s war ein Schmelztiegel, wo soziale Herkunft nichts bedeutete. Ob man sein Geld vor zweihundert Jahren oder vor zwei Tagen verdient hatte, war gleichgültig. Egal ob Politiker, Schauspieler, Showgirl oder Aristokrat – solange man sein Essen bezahlen konnte, war man willkommen. Fiona fragte sich schon, ob ganz New York in diesem Restaurant versammelt war, als Will plötzlich sagte: »Sie wissen doch hoffentlich, wie man knickst, meine Damen?«
    »Knickst? Warum? Ist die Königin hier?« fragte Fiona scherzend.
    »Nein, aber ihr Sohn.«
    Sekunden später verneigte er sich kurz und ergriff die Hand eines stattlichen, kahl werdenden Mannes mit blassen, vorquellenden Augen und grauem Spitzbart. Während Fiona wartete, daß sie vorgestellt wurde, realisierte sie plötzlich, daß sie Albert Edward, den Prinzen von Wales, anstarrte, den Erben des englischen Throns. Mary und sie sahen sich aufgeregt an. Mary gelang ein passabler Knicks, und Fiona bemühte sich, es ihr gleichzutun. Ihr Knicks war weder anmutig noch elegant, aber der Prinz schien das nicht zu bemerken. Er nahm ihre Hand, küßte sie und sagte, es tue ihm leid, daß er bereits gespeist habe, sonst hätte er sie an seinen Tisch gebeten. Dann wandte er sich Fiona zu und sagte, er habe einen Londoner Akzent bei ihr vernommen und frage sich, warum eine so hübsche englische Rose verpflanzt worden sei. Fiona antwortete, daß sie nach New York gekommen sei, um ihr Glück zu machen und einen Teehandel aufzubauen.
    »Tatsächlich?« fragte der Prinz. »Wie ungewöhnlich! Aber junge Frauen beschäftigen sich heutzutage mit allen möglichen Dingen, nicht wahr? Ich hoffe, Sie bringen den Yankees ein bißchen was über Tee bei. Was man diesbezüglich hierzulande vorgesetzt bekommt, finde ich einfach entsetzlich.«
    »Nur weil Sie meinen Tee noch nicht probiert haben, Sir. Ich schicke Ihnen morgen welchen. Zusammen mit einem Korb Blaubeertörtchen, selbstgemachter Himbeermarmelade, Sahne und Obsttorte, die Mrs. Munro backt, damit Sie einen ordentlichen Nachmittagstee kriegen und nicht das, was hier als solcher durchgeht.«
    Obwohl es Fiona nicht bewußt war, waren ihre Worte unglaublich kühn gewesen. Händler drängten dem zukünftigen Monarchen nicht ihre Waren auf. Aber sie hatte keine Ahnung, daß derlei Regeln existierten, geschweige denn, daß sie sie verletzt hatte. Sie war bloß freundlich. Und der Prinz, der nicht viel auf Zeremoniell gab, wenn ein hübsches Gesicht beteiligt war, war bezaubert.
    »Das würde mich sehr freuen, Miss Finnegan«, antwortete er. »Ich wohne im Fifth-Avenue-Hotel.«
    »Also abgemacht.«
    Der Prinz verabschiedete sich und klopfte Will auf die Schulter. »Halten Sie ein Auge auf sie, alter Junge«, riet er ihm. »Von der können Sie was lernen.«
    Nachdem der Prinz gegangen war, schüttelte Will den Kopf. »Sie sind unglaublich«, sagte er lachend.
    »Wirklich? Warum?«
    »Ich wette, wenn ich im Lexikon das Wort ›Händler‹ nachschlagen würde, würde ich auf Ihr Bild treffen.«
    »Nein, ich glaube, es ist unter ›Frech wie Oskar‹ zu finden«, warf Mary ein.
    Fiona schob das Kinn vor. »Der Prinz brauchte einen anständigen Tee. Das war das wenigste, was ich tun

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