Die Teerose
Will zu verlieben. Dessen war sie sich sicher. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sich Verliebtsein anfühlte, denn in Joe war sie einfach immer verliebt gewesen , aber so mußte es wohl sein.
Als sie Arm in Arm mit Will zur Kutsche zurückging, sagte sie sich, daß sie jemand anderen gefunden hatte, genau wie Rose Bristow es prophezeit hatte. Einen liebevollen, klugen, witzigen und wunderbaren Mann. Einen, der Gärten für sie baute, obwohl sie nicht reich war und keinen Vater im Handelsgeschäft hatte. Einen, der sie Joe vergessen ließe. Der war jetzt an den Rand ihres Bewußtseins gerückt wie ein Gespenst, das in einem dunklen Wald lauerte, und sie war sich sicher, daß sie ihn vollkommen vergessen würde. Er würde aus ihrem Leben, ihren Gedanken und ihrer Erinnerung verschwinden. Für immer.
40
F iona sah auf den Zettel mit der Adresse in ihrer Hand und verglich sie mit der Hausnummer des Backsteingebäudes vor ihr: Nassau Street Nummer einundzwanzig. Hurst, Brady und Gifford, Börsenmakler. Während des Essens bei Delmonico’s hatte Will darauf bestanden, daß sie sich bei seinen Maklern in die Geheimnisse des Börsengeschäfts einweihen ließ.
»Was ist der Unterschied zwischen den Reichen und den Armen?« hatte er sie gefragt.
»Daß die Reichen eine Menge Geld haben«, hatte sie geantwortet.
»Nein, meine Liebe. Die Reichen haben begriffen, daß sich aus Geld noch mehr Geld machen läßt. Nimm einen Teil deines Geldes, investiere es klug, und eh du dich’s versiehst, hast du die Summe beisammen, die du für deine Teestube brauchst.«
Und heute, drei Wochen nach dem Essen, konnte sie ein bißchen mehr Geld investieren als zum Zeitpunkt des Gesprächs, denn Wills Voraussage war eingetroffen. Die Zeitungen hatten von ihrer Kurzaudienz beim Prinzen von Wales Wind bekommen, und Peter Hylton schrieb, daß der künftige König von England seinen Tee statt von den elegantesten Geschäften der Stadt von einer kleinen Teehändlerin aus Chelsea bezog. Genau wie der schicke William McClane.
Will schnaubte vor Wut, daß sein Name in einer Klatschkolumne auftauchte, noch dazu auf so anzügliche Weise, aber Fiona blieb keine Zeit, sich beleidigt zu fühlen. Die Kunden rannten ihr sofort das Haus ein. Elegante junge Leute fuhren in Kutschen vor und fanden es furchtbar aufregend, sich auf die heruntergekommene West Side zu wagen. Dienstmädchen und Haushälterinnen kauften für ihre Herrschaft ein, und es gab Nachfragen von Restaurants, Hotels und Warenhäusern. In heller Aufregung lief Fiona zu ihrer Druckerei, um mehr Verpackungen, und dann zu Stuart, um mehr Tee zu bestellen. Sie mußte zwei Mädchen für den Verkauf und eines zum Abfüllen von TasTea einstellen. Oft half Fiona dabei mit und fragte sich kopfschüttelnd, warum sie es so weit gebracht hatte, wenn sie schließlich doch wieder Tee abfüllen mußte.
Eigentlich wollte Will sie heute nachmittag begleiten, war aber in einer Sitzung aufgehalten worden. Er hatte ihr seine Kutsche geschickt und ließ ihr ausrichten, daß sie ohne ihn hingehen müsse. Fiona hatte heute eigentlich gar keine Zeit dafür, doch als er gestern abend vorbeigekommen war und gesehen hatte, wie sie die Dollars, die nicht mehr in die Geldkassette paßten, in einen Krug stopfte, ließ er keine Ausflüchte gelten. »Morgen bei meinen Börsenmaklern. Keine Widerrede«, hatte er befohlen.
Sie ging die Treppe hinauf, öffnete die Tür und glaubte, in die Hölle gekommen zu sein. Am Ende des großen Kontors befand sich ein langer Holztisch, und ein Mann, mit dem Rücken zu ihr gekehrt, stand auf einem Stuhl und brüllte. Hinter dem Tisch war eine Holzbrüstung angebracht, die den Empfangsbereich von den Schreibtischen der Angestellten trennte. Hemdsärmelige Männer in Westen saßen dort, wischten sich den Schweiß vom Gesicht, tauchten eifrig ihre Federn in Tintenfässer und schrieben fieberhaft. Makler eilten hin und her und riefen den Schreibern Zahlen zu. Ihr Geschrei, der Lärm der Telegraphen und der Lochstreifenmaschinen war ohrenbetäubend. Sie hörte Ausdrücke, die eher in eine Hafenkaschemme als in ein Büro gepaßt hätten.
»Barnes!« rief ein Mann aus dem hinteren Teil des Raums. »Hobson ist in der Leitung. Er will dir den Kopf abreißen, weil du ihm zum Kauf von Sullivan geraten hast. Angeblich hast du ihn ruiniert.«
»Ach ja? Konnt ich wissen, daß das passiert? Sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren!«
Fiona ging zu der Holzbrüstung, die ihr wie ein
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