Die Teerose
Das hatten sie schon zweimal gemacht, ohne daß er etwas merkte, und nur auf diese Weise schaffte sie es, mit Will allein zu sein. Beim ersten Mal hatten sie einen Spaziergang durch den Park gemacht, beim zweiten Mal eine Kutschfahrt. Endlich konnten sie miteinander reden, ohne daß eine dritte Person zuhörte, und außerdem ein paar heimliche Küsse austauschen.
Als sie vor einer Stunde ankamen, hatte er sie gleich durch sein Haus geführt. Es hatte riesige Ausmaße und war mit den teuersten Möbeln eingerichtet. Es gab ein Empfangszimmer, zwei Salons, drei Wohnzimmer, ein Speisezimmer, endlose Flure, ein Spielzimmer, mehrere Arbeitszimmer, eine Galerie, einen Wintergarten, riesige Küchenräume, einen Ballsaal für dreihundert Gäste, mehrere Räume, die gar keinem Zweck zu dienen schienen, und Wills riesige Bibliothek neben verschiedenen Schlafzimmern, Badezimmern und Unterkünften für die Dienerschaft. Fiona hielt es eher für einen Palast als für ein Haus, und bei dem Versuch, alles aufzunehmen – den geschnitzten Marmor, die Vergoldung, die bemalten Paneele, die Wandteppiche, die seidenen Vorhänge, die Kristallüster, die Gemälde und Skulpturen –, wäre sie ein paarmal fast gestolpert. Sie war so überwältigt, daß sie froh war, endlich in der sparsamer dekorierten Bibliothek angekommen zu sein, wo es nur die Regale, zwei Ledersofas und eine Sitzgruppe vor dem Kamin gab. Trotz des Sommers war die Nacht kalt, und der Butler hatte ein Feuer für sie gemacht. Der Schein der Flammen und das Licht mehrerer Kandelaber erhellten den Raum.
»Will …«, begann sie und drehte sich langsam, um die Tausende von Bänden anzusehen. »Wie viele Bücher hast du eigentlich?«
Er dachte eine Weile nach, während er sich mit einem Korkenzieher abmühte. »So an die hunderttausend sicher.«
»Mein Gott!« flüsterte sie und ging an einer Wand entlang, während ihre Schritte auf dem polierten Steinboden hallten. Sie hörte das leise Ploppen eines Korkens.
»Ah! Endlich. Magst du Margaux, Fiona? Das ist ein Neunundsechziger. Älter, als du es bist.«
Fiona zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Hab nie einen getrunken. Ich habe überhaupt noch nie Wein getrunken, bevor du mich zu Delmonico’s eingeladen hast. Nur Champagner. Das war das einzige, was Nick auf dem Schiff getrunken hat, also hab ich mich ihm angeschlossen.«
Will sah sie verständnislos an. »Wirklich? Was hast du denn in London getrunken?«
»Tee.«
»Ich meine zum Lunch. Und zum Dinner.«
Fiona griff sich ans Kinn. »Hmm … zum Lunch. Und zum Dinner. Laß mich nachdenken. Ah ja, ich erinnere mich … Tee. Da gab’s Tee. Und dann wieder Tee. Meistens einen ziemlich mittelmäßigen Assam vom Laden an der Ecke, aber manchmal einen göttlichen« – sie klapperte mit den Wimpern bei dem Wort – »Darjeeling, wenn in den Docks eine Kiste kaputtgegangen war und mein Vater und seine Kumpel ihn stibitzen konnten, bevor es der Vorarbeiter bemerkte.«
Will sah sie lange an. »Nimmst du mich hoch?«
Sie grinste. »Was glaubst du denn, was wir beim Lohn eines Dockarbeiters getrunken haben?«
»Wie hoch war der denn?«
»Etwas über zwanzig Shilling. Etwa fünf Dollar.«
Will verzog das Gesicht. »Wahrscheinlich keinen Wein. Aber jetzt tust du’s. Komm und probier den hier.«
Er hatte sich auf ein Sofa niedergelassen, und Fiona setzte sich neben ihn. Es gefiel ihr in seiner Bibliothek. Sie fühlte sich sicher und ihm nahe. Bei ihm fühlte sie sich immer sicher, egal, wohin sie gingen. Sicher und behütet. Das war ein gutes Gefühl. Wenn auch nicht so gut wie die atemlos drängende Sehnsucht des Verliebtseins. Dieses Gefühl hatte sie verlassen, gleichgültig, wie sehr sie es auch herbeiwünschte. Aber es würde wiederkommen. Nach einiger Zeit. Ganz sicher. Es war noch zu früh. Schließlich kannte sie Will kaum. Sie kannte ihn noch nicht lange genug, um ihn zu lieben. Sie begann erst, sich zu verlieben. Und das war etwas ganz anderes.
Er goß zwei Gläser Wein ein. Sie griff nach einem, aber er zog es ihr weg.
»Nicht so schnell. Zuerst eine Lektion, bevor du den besten Wein trinkst, den die Welt zu bieten hat.«
»Muß ich ihn ausspucken? Auf dem Schiff gab es eine Weinverkostung. Ich hab die Leute dabei beobachtet. Sie haben ihn im Mund herumgewirbelt und dann in einen Kübel gespuckt. Ich schätze, er hat ihnen nicht allzugut geschmeckt.«
»Wenn du den ausspuckst, mein Mädchen, knüpf ich dich auf.«
»Dann ist er also gut?«
»Sehr
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