Die Teerose
Jugend. Ihre Glieder waren kräftig und schlank. Sie strich über ihren flachen Bauch und versuchte, ihn sich rund vorzustellen. Will hatte gesagt, daß er Kinder von ihr wollte. Sofort. Nächsten Frühling wäre sie neunzehn. Viele Mädchen ihres Alters waren verheiratet, einige davon schon Mütter geworden. Wenn sie ihn heiratete, würde sie das auch bald sein. Es wäre schön, einen Mann zu haben. Und ein winziges Baby auf dem Arm.
Sie schloß die Augen und stellte sich vor, mit Will im Bett zu liegen, sie stellte sich sein Gesicht vor und versuchte, seine liebkosenden Hände auf ihrem Körper zu spüren. Aber die braunen Augen, die sie sich vorzustellen versuchte, waren himmelblau. Das Haar, zerzaust und zu lang, war blond. Die Lippen, die ihren Namen flüsterten, gehörten nicht Will. »Ich liebe dich, Fee«, sagten sie. »Für immer.« Er war derjenige, für den die Sonne auf- und unterging, für den die Vögel sangen. Ohne den sie nicht leben konnte.
»Nein«, flüsterte sie. »Geh weg. Bitte geh weg.«
Es war Wochen her, daß sie an ihn gedacht hatte, sich erlaubt hatte, sein Gesicht vor sich zu sehen, seine Stimme zu hören. Jetzt versuchte sie, diese Bilder zu verscheuchen, aber sie hatte sie zu lange unterdrückt und wurde plötzlich von tausend ungewollten Erinnerungen an Joe überflutet. Es war fast so, als wäre er hier im Zimmer bei ihr, als könnte sie die Hand ausstrecken und ihn berühren. Aber sie wußte, wenn sie die Augen öffnete, wäre alles verschwunden, und sie wäre wieder allein. Tränen quollen unter ihren dunklen Wimpern hervor, und sie stieß vor Qual einen leisen Schrei aus.
Dann zwang sie sich, an Will zu denken, an all seine wunderbaren Eigenschaften, und versuchte, sich zu überzeugen, daß sie jetzt ihn liebte, nicht Joe. Aber es gelang ihr nicht. Ihr Herz hatte schon vor langem seine Wahl getroffen und schmerzte nun, gebrochen, leer und kalt, wie ein Stein in ihrer Brust.
Sie öffnete die Augen, sah wieder in den Spiegel und erblickte ein tränenüberströmtes, von Trauer und Zorn gezeichnetes Gesicht. Sie sah einen Körper, der jetzt glatt, aber eines Tages verschrumpelt wäre. Sie sah eine junge Frau, die eines Tages alt wäre – steif, gebrechlich und einsam. Und sie wußte, daß sie, wenn sie Joe nicht auf der Stelle aus ihrem Herzen verbannte, wenn sie Wills Liebe nicht annahm, genauso enden würde wie Miss Nicholson: mit einem in Trauer vergeudeten Leben um etwas, das nie existiert hatte.
Hastig zog sie sich wieder an, nahm den Ring aus der Schublade und streifte ihn über. Einen Moment blieb sie an der Schlafzimmertür stehen und lauschte. Es war nichts zu hören. Mary war nach oben gegangen, Michael lag im Bett. Sie griff nach ihrer Tasche, ging leise aus dem Zimmer und aus dem Haus, entschlossen, ihre Vergangenheit für immer zu begraben und sich der Zukunft zu stellen.
»Sie können dort keinen Tunnel graben, das hab ich Ihnen doch schon erklärt, Hugh«, sagte Will. Er stand in dem Wohnzimmer neben seinem Schlafzimmer und umklammerte den Hörer seines großen schwarzen Telefons, als wollte er es erwürgen. »Wie wollen Sie denn sprengen? Sie würden die Grand Central Station in den East River jagen! Wir wenden unsere Methode an: graben ein Stück auf, verlegen die Gleise, machen dann wieder zu … wie bitte? Ich kann Sie nicht verstehen … bleiben Sie dran …«
Will knallte den Hörer auf den Schreibtisch und schwor, daß die neu gegründete Telefongesellschaft McClane-Communications American Bell bald gehörig einheizen würde. Als die Leitung wieder frei war, setzte er sein Gespräch mit dem Bürgermeister fort und fragte sich, ob der Mann Samstag nachts nicht Besseres zu tun hatte, als sich mit dem Bau der U-Bahn zu beschäftigen. Er selbst war im Morgenmantel und hatte sich gerade mit einem Glas Wein und einem Buch zurückziehen wollen, als das Telefon klingelte.
Jetzt war er in eine Diskussion über den U-Bahnbau verwickelt, obwohl er nichts anderes tun wollte, als sich hinzulegen und sich seiner gekränkten Eitelkeit hinzugeben. Vor ein paar Stunden hatte er Fiona gebeten, ihn zu heiraten, und er hatte gehofft, sie würde in seine Arme fallen und ja sagen. Statt dessen hatte sie um Zeit zum Nachdenken gebeten. Sie hatte ihn geküßt und gesagt, daß sie sich geehrt fühle und daß sie ihn liebe, was er ihr glaubte. Doch als er sie umarmte, spürte er eine Steifheit und Zurückhaltung, die ihm sehr vertraut war, und sie wich zurück, wie immer, wenn
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