Die Teerose
die im East End wohnten, war er ein verrückter Engländer, vollgesoffen und gefährlich. Für die Einheimischen ein schmutziger, gottloser Ausländer.
Fiona hatte keine Vorstellung von dem Mörder. Es interessierte sie nicht, wie er aussah. Das war ihr egal. Sie wollte bloß, daß er gefangen wurde, damit sie abends mit Joe wieder spazierengehen konnte, ohne daß ihre Mutter dachte, sie läge tot in einer Gasse, wenn sie ein paar Minuten zu spät nach Hause kam.
Das geräuschvolle Einstürzen von Bauklötzchen neben ihr ließ sie zusammenzucken.
»Verflucht!« schrie Seamie.
»Hat dir Charlie das beigebracht?« fragte sie.
Er nickte stolz.
»Laß das bloß unseren Pa nicht hören, Kleiner.«
»Wo ist Charlie?« fragte Seamie und sah zu ihr auf.
»In der Brauerei unten.«
»Wenn er doch schon daheim wär. Er hat gesagt, er bringt mir Lakritz mit.«
»Er kommt bald heim, Schatz.« Fiona hatte ein bißchen Gewissensbisse, weil sie schwindelte. Charlie war nicht in der Brauerei, sondern im Swan, einem Pub am Fluß, wo er einem Kerl eine Tracht Prügel verabreichte, aber das konnte sie Seamie kaum sagen. Er war zu klein, um ein Geheimnis zu bewahren, und könnte alles ihrer Ma erzählen. Charlie kämpfte um Geld. Das hatte Fiona von Joe erfahren, der es von einem Freund wußte, der auf ihn gewettet und gewonnen hatte. Das erklärte auch die Veilchen an seinen Augen, mit denen er neuerdings nach Hause kam und die er immer mit »kleinen Raufereien« abtat.
Sie durfte eigentlich nicht wissen, daß ihr Bruder boxte, also konnte sie ihn auch nicht fragen, was er mit seinen Gewinnen vorhatte, aber sie hatte einen Verdacht: Onkel Michael in Amerika. Sie hatte gesehen, wie seine Augen aufleuchteten, als ihre Mutter neulich einen Brief aufmachte und vorlas, wie sein Onkel seinen Laden in New York schilderte. Sie hatte auch gesehen, wie er später den Brief am Küchentisch nochmals las. Er sah nicht einmal auf, als sie vorbeiging, sondern sagte nur: »Ich geh fort, Fee.«
»Das kannst du nicht. Ma würd sich die Augen ausweinen«, antwortete sie. »Außerdem hast du kein Geld für die Überfahrt.«
Er ging nicht darauf ein. »Ich wette, Onkel Michael könnte jemand brauchen, so gut, wie sein Laden läuft. Wo Tante Molly jetzt das Baby bekommt und alles. Warum nicht seinen Neffen? Ich bleib nicht hier und racker mich mein Leben lang für einen Scheißlohn in der Brauerei ab.«
»Du kannst für mich und Joe in unserem Laden arbeiten», antwortete sie.
Er verdrehte die Augen.
»Da brauchst du gar keine Grimassen zu ziehen! Du wirst schon sehen, wir kriegen unseren Laden.«
»Ich möchte es selbst schaffen. Ich geh nach New York.«
Fiona hatte die Unterhaltung vergessen, bis sie erfuhr, daß er boxte. Dem kleinen Gauner war es Ernst. Amerika, dachte sie, wo die Straßen mit Gold gepflastert sind. Wenn er es dorthin schaffte, wäre er in kürzester Zeit ein feiner Pinkel. Sie würde versuchen, sich für ihn zu freuen, wenn es soweit war, aber sie haßte den Gedanken, ihren Bruder fortgehen zu sehen. Sie liebte ihn von Herzen, obwohl er immer Schwierigkeiten machte, und Leute, die nach Amerika gingen, kamen so gut wie nie mehr zurück. Erinnerungen und gelegentliche Briefe wären alles, was sie noch von ihm hätten, wenn er fort war.
Sie würde ihn vermissen, obwohl sie seinen Wunsch wegzugehen nur allzugut verstehen konnte. Genau wie sie ertrug er es nicht, sich eine Zukunft vorzustellen, die nur aus Knochenarbeit bestand. Warum sollte das ihr Los sein? Und Charlies? Weil sie arm waren? Es war kein Verbrechen, arm zu sein – Christus selbst war ein armer Arbeiter gewesen, wie ihr Pa immer sagte. Pater Deegan meinte ebenfalls, Armut sei keine Sünde, aber er erwartete, daß man sie demütig ertrug. Wenn man arm war, hatte der Herr einen dafür bestimmt, und seinem Willen sollte man sich fügen. Nicht höher hinauswollen und das alles.
Sie sah die Montague Street mit den schäbigen, rußgeschwärzten Häusern hinunter, mit den überfüllten Wohnungen, den dünnen Wänden und den zugigen Fenstern. Sie kannte das Leben von fast allen Bewohnern. Nummer fünf – die McDonoughs: Neun ewig hungrige Kinder. Nummer sieben – die Smiths: Er war ein Spieler, sie immer im Pfandhaus, und die Kinder waren außer Rand und Band. Nummer neun – die Phillips: Sie hatten zu kämpfen, waren aber achtbare Leute. Mrs. Phillips, die nie lächelte, putzte ständig die Haustreppe.
War das der Platz, an den sie gehörte? Sie hatte
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