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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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jedenfalls nicht darum gebeten. Sollte ihn doch jemand anderer einnehmen. Sie würde sich einen besseren suchen, gemeinsam mit Joe.
    Joe. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie daran dachte, was sie neulich in der Gasse getan hatten. Ein warmes und prickelndes Gefühl durchfuhr sie, wenn sie daran dachte, und das tat sie unablässig. Sie war zur Kirche gegangen und wollte es Pater Deegan beichten, aber auf dem Weg dorthin entschied sie, daß es ihn einen Dreck anging, weil es keine Sünde war. Er würde sagen, daß sie gefehlt hatten, aber sie wußte, daß das nicht stimmte. Nicht mit Joe.
    Was ist bloß in mich gefahren? dachte sie. Im einen Moment war sie davon überzeugt, daß sie so etwas nicht tun, nicht einmal daran denken durfte, im nächsten stellte sie sich vor, wie sie allein mit Joe war – wie er sie küßte, wie seine Hände auf ihr lagen und sie an Stellen berührten, wo er sie eigentlich nicht hätte berühren dürfen. Hatten sie kurz vor dem letzten Schritt haltgemacht? Und worum handelte es sich dabei überhaupt? Sie hatte eine vage Vorstellung, worum es dabei ging. Der Mann stieß angeblich heftig zu, hatte sie gehört, aber warum? Weil es nicht reinpaßte? Und wenn es nicht reinpaßte, hieß das, daß es weh tat? Sie wünschte, es gäbe jemanden, der ihr das sagen könnte. Ihre Freundinnen wußten darüber nicht mehr als sie selbst, und sie würde lieber sterben, als Charlie zu fragen.
    Sie spürte, wie sich Seamie an sie kuschelte. Er blinzelte und gähnte. Es war Zeit für sein Schläfchen. Sie nahm seine Klötzchen, trug ihn ins Haus und legte ihn im Wohnzimmer ins Bett. Noch bevor sie ihm die Stiefel ausgezogen hatte, war er schon eingeschlafen. Leise schlich sie sich aus dem Zimmer und zog die Tür zu. Charlie war fort, Roddy im Pub, und Eileen schlief oben im Schlafzimmer der Eltern. Selbst ihre Mutter und ihr Vater machten ein Nickerchen, wie jeden Sonntag – die Art von Nickerchen, das Charlie und sie lieber nicht störten.
    Zumindest während der nächsten Stunde war sie frei. Sie konnte sich eine Tasse Tee machen und lesen. Sie konnte zur Commercial Street spazieren und die Schaufenster ansehen oder Freundinnen besuchen gehen. Gerade als sie in der Diele stand und überlegte, was sie tun sollte, klopfte es an der Tür. Sie öffnete.
    »Hallo, gnä‘ Frau«, sagte der junge Bursche auf der Treppe. »Brauchen Sie Obst oder Gemüse heute? Rüben, Zwiebeln? Ein bißchen Endiviensalat?«
    »Sei still, du Dummkopf, du weckst bloß meinen Bruder und die anderen im Haus auf«, erwiderte Fiona und freute sich, Joe zu sehen. »Du bist heute früh fertig. Läuft das Geschäft schlecht heut morgen?«
    »Geschäft? Ähm, nein, nicht direkt … ähm … ich hab bloß bald Schluß gemacht, das ist alles. Ich hab früh Schluß gemacht und mir gedacht, ich könnt einen Spaziergang an den Fluß runter machen«, sagte er und lächelte strahlend.
    Zu strahlend, fand sie. Und er machte nie früh Schluß oder spazierte zum Fluß hinunter, wenn er nach einem ganzen Wochenende voller Arbeit erledigt vom Verkaufen war. Da steckte etwas anderes dahinter.
    »Los, komm mit«, sagte er und zog sie vorsichtig am Arm.
    Schweigend schritt er schnell aus. Fiona war sich sicher, daß ihn etwas beschäftigte. Hatte er sich wieder mit seinem Vater gestritten? Sie war neugierig, es zu erfahren, aber aus ihm war nichts herauszukriegen, wenn er nicht wollte.
    An den Docks war es still, als sie bei den Old Stairs ankamen. Auch auf dem Fluß war es ruhig. Es herrschte Ebbe. Nur ein paar Lastkähne und Fährboote dümpelten auf dem Wasser. Entlang der Kais waren die Tore geschlossen, die Kräne standen still. Der Fluß, wie ganz London, bemühte sich, den Tag des Herrn einzuhalten.
    Auf der Hälfte der Treppe ließen sie sich nieder. Joe beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und schwieg. Fiona sah ihn von der Seite an, richtete dann den Blick aufs Wasser und wartete, daß er zu reden begann. Sie holte tief Luft und roch Tee. Immer Tee. In Kisten verpackt bei Oliver’s Wharf oder in kleinen Häufchen auf dem Boden. Sie stellte sich vor, wie der braune Staub durch die Dielenbretter drang und durch die Ritzen in den Toren wehte. Sie schloß die Augen und atmete wieder ein. Süß und leicht, Darjeeling.
    Nach einer Weile sagte Joe: »Wie ich hör, macht sich Charlie unten im Swan einen Namen.«
    Sie wußte, daß er nicht zum Fluß gegangen war, um über Charlie zu reden. Das war bloß seine Art, nicht gleich

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