Die Teerose
heirateten, als er jeden Morgen bei Tagesanbruch an den Fluß hinunterging, wo die Leute ausgesucht wurden und der Vorarbeiter die Stärksten herauspickte und ihnen drei Pence die Stunde bezahlte. Außerdem arbeiteten jetzt auch Fiona und Charlie, und ihr Lohn war eine große Hilfe. Sie waren zwar arm, aber sie gehörten zu den angesehenen Arbeitern, und das war ein großer Unterschied. Kate mußte sich kein Essen erbetteln. Ihre Kinder waren sauber, ihre Kleider ordentlich, und ihre Stiefel waren immer geflickt.
Der beständige Kampf, mit den Rechnungen Schritt zu halten, bedrückte sie manchmal, aber die Alternative war undenkbar. Wirkliche Armut. Die von der niederschmetternden, ausweglosen Art, wo die Möbel auf die Straße geworfen wurden, wenn man die Miete nicht bezahlen konnte, wo man Läuse bekam, weil man in schmutzigen Absteigen hausen mußte. Wo die Kinder in Lumpen gingen und der Ehemann fortblieb, weil er den Anblick der mageren, hungrigen Kinder nicht ertragen konnte. Kate hatte diese Dinge bei Familien in ihrer Straße gesehen, wenn der Mann seine Arbeit verlor oder krank wurde. Familien wie die ihre, ohne nennenswerte Ersparnisse, mit nur ein paar Münzen in einer Büchse. Armut war ein Abgrund, in den man leichter fiel, als daß man sich wieder daraus hervorarbeitete, und davon wollte sie ihre Familie so weit wie möglich fernhalten. Sie hatte furchtbare Angst, daß der Streik sie an den Rand dieses Elends bringen könnte.
»Ich weiß, was wir machen, Mrs. Finnegan«, sagte Lillie kichernd. »Ich hab in der Zeitung gelesen, daß es eine Belohnung gibt für denjenigen, der den Whitechapel-Mörder fängt. Eine Menge Geld – um die hundert Pfund. Wir zwei könnten ihn doch stellen.«
Auch Kate lachte. »O ja, Lillie, wir zwei wären ein feines Paar! Wir würden nachts durch die Gassen streifen, ich mit einem Besen und du mit einer Milchkanne, die eine verängstigter als die andere.«
Die beiden redeten noch eine Weile, dann trank Kate ihre Tasse aus, dankte ihrer Freundin und sagte, sie müsse los. Lillie hielt ihr die Küchentür auf. Sie mußte um ein Tor und dann durch eine schmale Gasse entlang des Hauses zur Straße gehen. Jedesmal schürfte sie sich die Handknöchel an der Backsteinmauer auf. Sie wünschte, sie hätte durchs Haus gehen und den Vordereingang benutzen können, aber das könnte eine Nachbarin sehen und Mrs. Branston erzählen. Dies war ein Bürgerhaus in einer guten Gegend, und daß sie die Vordertür benutzen könnte, war undenkbar.
»Bis bald, Mrs. Finnegan.«
»Bis bald, Lillie. Denk dran, daß du die Tür abschließt«, rief Kate hinter dem großen Wäschekorb auf ihrer Schulter hervor.
6
D er Herbst steht vor der Tür, dachte Fiona, und zog ihren Schal fester um die Schultern. Die Anzeichen waren unübersehbar – fallende Blätter, kürzere Tage und die Rufe des Kohlenmanns von seinem Wagen. Es war ein grauer Septembersonntag, und die feuchte Luft war eisig geworden. ZEIT DES TODES, verkündeten die Schlagzeilen der Zeitungen. WHITECHAPELMÖRDER NOCH IMMER AUF FREIEM FUSS .
Sie saß auf der Haustreppe, während Seamie neben ihr spielte, und fragte sich, wie jemand mit einem Fremden in eine Gasse gehen konnte, während ein Mörder frei herumlief. »Der Teufel ist ein bezaubernder Mann«, sagte ihre Mutter. Das mußte er wohl sein, dachte Fiona, wenn er eine Frau dazu kriegen wollte, mit ihm allein im Dunkeln einen Spaziergang durch den Nebel zu machen.
In ihrer Straße und in ganz Whitechapel konnten die Menschen nicht glauben, daß jemand solche Taten begehen und dann einfach verschwinden konnte. Die Polizisten standen da wie begossene Pudel und wurden von Parlament und Presse kritisiert. Das lastete schwer auf Onkel Roddy. Er hatte den Anblick der Leiche von Polly Nichols noch immer nicht überwunden. Noch immer litt er unter Alpträumen.
Der Mörder war ein regelrechtes Monster, und die Presse hatte ihn zudem zu einem Symbol für das gemacht, was in der Gesellschaft nicht in Ordnung war: für die Gewalt und Gesetzlosigkeit in der Arbeiterklasse und für die Lasterhaftigkeit der Oberklasse. Für die Reichen war der Mörder ein Mitglied der verderbten Unterklasse, ein rasendes Untier. Die Armen hielten ihn für einen Vertreter der gehobenen Stände, für einen Gentleman, der sein widerwärtiges Vergnügen daran fand, Prostituierte wie Freiwild zu jagen. Für die Katholiken war er ein Protestant, für die Protestanten ein Katholik. Für die Einwanderer,
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