Die Teerose
Vater, ihren Brüdern und Onkel Roddy etwas mitzubringen. Und wenn sie die extravaganten Zigaretten kaufte, die sie für ihren Vater ausgesucht hatte, was würde dann für ihre Mutter bleiben? Mit Joes Hilfe entschied sie sich für eine originelle Dose mit Sahnetoffees. Davon hatten alle etwas, außer dem Baby, aber das war sowieso zu klein, um sich darüber zu freuen.
In den Geschäften prägten sie sich genauestens ein, was sie künftig wissen mußten. Im Delikatessenladen merkten sie sich, wie die Äpfel aufgeschichtet waren, wie jeder einzelne in blaues Seidenpapier gewickelt war. Sie lasen die Anzeigen an Gebäuden und Bussen. Sie überlegten, was die geschmackvollste Art war, Süßigkeiten zu verpacken – eine weiße Schachtel mit einem rosafarbenen Seidenband oder eine blaue mit einem cremefarbenen.
Und gerade, als Fiona glaubte, sie habe die schönsten Dinge der ganzen Stadt gesehen und der Tag hielte keine weiteren Überraschungen bereit, waren sie vor Fortnum & Mason angekommen. Ein Mann in Uniform hielt ihnen die Tür auf. Joe bedeutete ihr einzutreten.
»Was? Hier rein?« flüsterte sie unsicher.
»Ja, geh rein, mach schon.«
»Aber, Joe, es ist doch so schrecklich vornehm …«
Der Mann in Uniform räusperte sich.
»Geh weiter, Fee, bitte. Du versperrst die Tür.« Er stieß sie ein bißchen an, um sie zum Weitergehen zu bewegen.
»Stinkvornehm, was?« flüsterte sie und sah zu der hohen gewölbten Decke hinauf, auf die Glasvitrinen und die wundervoll gekachelten Böden. »Was machen wir hier drin?«
»Wir trinken Tee. Ich lad dich ein. Das ist meine Überraschung. Komm weiter.«
Joe führte sie an den ausgefallensten Auslagen vorbei in den hinteren Teeraum. Die Bedienung ließ sie auf zwei gepolsterten Stühlen an einem niedrigen Tisch Platz nehmen, und Fiona war so begeistert von der Schönheit des Raums und der Leute darin, daß sie ganz vergaß, sich über die Preise Gedanken zu machen. Der Teeraum war wie eine Erleuchtung für sie. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß es solche Dinge überhaupt gab – eine so schöne, perfekte Welt, wo die Leute nichts anderes zu tun hatten, als Tee zu trinken und Plätzchen zu knabbern. Sie sah sich mit glänzenden Augen um, nahm alles in sich auf: den in blassem Rosa und Grün gehaltenen Raum, die schneeweißen Tischdecken mit echten Rosen darauf, die attraktiven Männer und die schick gekleideten Frauen, die leise Musik des Pianos, die Gesprächsfetzen, das kokette Gelächter. Und das Schönste von allem: Joe, der ihr direkt gegenüber saß. Dieser Tag war wie ein Traum, und sie wünschte, sie könnte in dieser schönen Welt bleiben und müßte nicht wieder ohne ihn nach Whitechapel zurück. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken, es würde alles verderben. Es war noch nicht Montag. Sie hatte ihn noch für den Rest des Tages, und morgen würde er nach Whitechapel kommen, um bei seiner Familie zu übernachten.
Es war fast halb fünf, als sie, gesättigt von all den Sandwiches, Keksen und Kuchen, Fortnum’s verließen. Es dämmerte, und die Luft war kühl geworden. Sie gingen ein kleines Stück und nahmen dann einen Bus. Fiona lehnte den Kopf an Joes Schulter und schloß die Augen. Kurz darauf kamen sie in Covent Garden an. Seine Wohnung befand sich nur zwei Ecken von der Haltestelle entfernt. Er brauchte einen Moment, bis er die Tür aufgeschlossen hatte. Sobald sie drinnen waren, zündete er die Gaslampen an und machte Feuer im Ofen. Während das Zimmer warm wurde, inspizierte sie die Wohnung.
»Das gehört alles dir?« fragte sie beim Herumgehen.
»Ja, mir und Harry. Jeder hat sein eigenes Bett. Zuerst hab ich mich gar nicht dran gewöhnen können. Zu bequem, zuviel Platz. Kein kleiner Bruder, der die ganze Nacht die Beine nach einem ausschlägt.«
»Und du hast ein Klo? Gleich hier drinnen?«
Joe lachte. »Ja. Sieh’s dir an. Das reinste Wunder.«
Als sie zurückkam, ließ er sie vor dem Ofen Platz nehmen – die Ofentür stand weit offen, und im Innern brannte ein helles Feuer. Ihr Blick schweifte über den Kaminsims, auf dem eine Menge männlicher Utensilien aufgereiht waren. Rasiermesser, Klappmesser, eine Whiskeyflasche, auf der H.E. eingraviert war, und ein hübscher Seidenbeutel.
»Ist das dein Beutel oder der von Harry?« fragte sie neckend.
»Was?« fragte Joe, ihrem Blick folgend. »Oh. Der … ähm … der gehört wahrscheinlich Millie.«
»Millie! Millie Peterson?«
»Ja«, antwortete er und stocherte mit dem Schürhaken die
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