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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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haben. Dann bin ich schon auf einem Dampfer in den Osten.« Harry schwieg einen Moment und starrte ins Feuer. »Ich soll der Sohn für ihn sein, den er nie hatte … der Sohn, den er verloren hat … aber das bin ich nicht.«
    »Das kann er doch nicht von dir verlangen, Harry, du hast dein eigenes Leben. Er wird darüber hinwegkommen. Er muß sich eben jemand anderen suchen, oder?«
    Harry nickte langsam, dann wandte er sich lächelnd zu Joe um. »Vielleicht hat er den schon gefunden.«

   8   
    N ichts in London konnte mit dem imposanten Anblick, der schwindelerregenden Vielfalt und dem Treiben in der Lebensmittelabteilung von Harrods an einem Samstagmorgen konkurrieren. Es war ein regelrechter Freßtempel, wo elegante Damen Torten und Plätzchen aussuchten, herrische Haushälterinnen den unglücklichen Dienern in ihrem Schlepptau Paket um Paket aufluden, flinke Verkäuferinnen in Windeseile die Waren verpackten und mit Schürzen bewehrte Ladenjungen hin und her rannten, um die Regale wieder aufzufüllen.
    Fiona fand den Anblick märchenhaft. Während sie den einen Gang hinauf- und den anderen hinabging, mußte sie sich an Joes Arm festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, so verwirrend empfand sie alles. »Sieh nur«, sagte sie und deutete auf kunstvoll aufgeschichtete Fische, die auf einem Berg aus zerstoßenem Eis lagen. Dahinter hingen Hasen, Fasane, Gänse, Enten und Rebhühner an stählernen Haken. Zu ihrer Linken befand sich die Fleischtheke. Hier gab’s keine Hälse und Rippenstücke, hier lag das Fleisch des reichen Mannes – zarte Filets, rote Schinken, dicke Schnitzel. Sie schlenderten am Gewürzstand vorbei, an Flaschen mit edlem Portwein und Madeira, in die Gemüseabteilung, wo Joe stolz auf die rosigen Bramley- und die goldenen Boskopäpfel deutete, die von Peterson in Covent Garden stammten.
    Ihr letzter Anlaufpunkt war die Patisserie-Abteilung, wo Fiona vor einer Hochzeitstorte stehenblieb. Kaskaden roter Zuckerrosen, so perfekt geformt, daß sie wie echt aussahen, schmückten die mit Zuckerguß überzogenen Seiten. Eine Karte am Sockel informierte die Neugierigen, daß es sich um die Replik der Torte für die Hochzeit der New Yorkerin Lilian Price Hammersley mit George Charles Spencer-Churchill, dem achten Herzog von Marlborough, handele. Die Zuckerrosen, wurde erklärt, seien nach einer neuen Sorte aus den Vereinigten Staaten namens American Beauty modelliert worden.
    »Genauso eine werden wir auch haben«, sagte Joe. »Nur mit Whitechapel-Schönheiten darauf.«
    »Whitechapel-Schönheiten? Nie davon gehört.«
    »Auch als Gänseblümchen bekannt.«
    »Liefert Harrods nach Whitechapel?« fragte Fiona kichernd.
    »Das wär eine Schau, was?« antwortete Joe und lachte ebenfalls. »Wenn der Lieferwagen von Harrods nach Whitechapel fahren müßte? Wahrscheinlich wüßten sie nicht mal, daß das in London liegt.«
    Sie bogen sich vor Lachen, als sie aus dem Laden gingen und sich vorstellten, wie der grüne Harrods-Lieferwagen mit dem stocksteifen, weißbehandschuhten Fahrer über die holperigen Straßen an den Docks rumpelte und von Straßenbengeln und streunenden Hunden verfolgt wurde.
    »Wo gehen wir jetzt hin?« fragte Fiona mit leuchtenden Augen.
    »Am Hyde Park vorbei zur Bond und Regent Street, und dann gibt’s eine Überraschung. Komm mit.«
    Alles war eine Überraschung, seit Joe am Morgen in der Montague Street aufgetaucht war und an ihre Tür geklopft hatte. Sie war hingeeilt, um zu öffnen, denn sie wußte, daß es Joe war, weil er ihr vierzehn Tage zuvor geschrieben hatte, daß er sie zu einem Ausflug abholen werde.
    Sie hatte ihre Mutter gefragt, aber die hatte gesagt: »Frag deinen Vater«, der hatte ein bißchen gebrummt, aber schließlich seine Erlaubnis gegeben. Dann flehte sie Mr. Minton an, ihr den halben Tag freizugeben. Er ließ sie schmoren, stimmte aber schließlich zu – mit einem Lohnabzug natürlich.
    Anfangs war sie so aufgeregt, daß sie es gar nicht erwarten konnte, bis der Tag endlich kam. Aber bald stellte sie fest, daß sie nichts Hübsches anzuziehen hatte und den besseren ihrer zwei Röcke und eine einfache Baumwollbluse tragen müßte. Ihre Mutter bemerkte ihre plötzliche Niedergeschlagenheit und erriet, was los war. Als Expertin, wenn es darum ging, aus nichts etwas zu machen, gelang es ihr bald, das Problem zu beheben. Sie führte Fiona in ihr Schlafzimmer und wühlte in einer Truhe, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte: Eine

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