Die Teerose
hatte sie schweigend dagesessen, Joes Bett angestarrt und sich vorgestellt, wie sich die beiden in den Armen hielten. Nochmals kochte die Wut in ihr hoch. »Ich weiß nicht, warum er sie vorzieht, Olive«, stieß sie hervor. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Vielleicht haben Sie ihm nicht die richtigen Zeichen gegeben, Miss.«
»Ich hab ihm jedes Zeichen gegeben, das ich mir vorstellen kann. Er muß ja blind sein.«
»Wenn Sie mich fragen«, antwortete Olive und sammelte die Scherben auf, »ist er nicht der Typ, der blind ist.«
Millie setzte sich auf. »Was meinst du damit?«
»Nun … er arbeitet für Ihren Vater, stimmt’s?«
»Na und?«
»Es gehört sich doch nicht, Miss, der Tochter seines Arbeitgebers nachzustellen. Versuchen Sie’s mal aus diesem Blickwinkel zu sehen. Wahrscheinlich denkt er, Ihr Vater wäre böse und hätte ohnehin jemand Besseren für Sie bestimmt.«
Millie sah Olive verblüfft an. Sie hatte recht. Es lag nicht daran, daß Joe kein Interesse an ihr hatte, natürlich nicht, sondern daß er glaubte, nicht gut genug für sie zu sein! Sie war eine Erbin, sie konnte jeden haben, also warum sollte sie sich einen bettelarmen Händler aussuchen? Jetzt war alles klar. Joe bewunderte ihren Vater, er sah zu ihm auf, und nur aus Respekt für ihn schenkte er ihr keine Beachtung. Wie konnte sie bloß so dumm gewesen sein!
»Olive, du kluges Mädchen! Das ist es!« Ihre Eitelkeit gewann die Oberhand. Sie brauchte Zeit mit Joe und eine günstige Gelegenheit. Er hielt sie für unberührbar? Nun, dann würde sie ihm zeigen, wie berührbar sie war. Genau! Männer hatten starke Begierden, die sich nicht leicht kontrollieren ließen. Sie schafften es einfach nicht. Das hatte ihr ihre Tante erklärt, als sie zum erstenmal ihre Tage bekam und sie sich unterhalten hatten. »Ich muß kühner sein, Olive«, sagte sie und sah sich im Spiegel an. »Ihm zeigen, daß ich zu haben bin.« Sie biß sich auf die Lippe. »Wenn ich ihn bloß mal allein erwischen könnte, ohne Harry und Papa in der Nähe.«
»Wie wär’s mit der Guy-Fawkes-Nacht, Miss?«
Jeden Herbst gab ihr Vater eine große Guy-Fawkes-Party für seine Angestellten und Kunden. Bis dahin waren es nur noch etwa eineinhalb Monate. Wie immer gäbe es ein großes Feuer und Berge von Essen und Trinken. Joe würde auch zu der Party kommen, das müßte er. Und im Dunkeln, inmitten all des ausgelassenen Treibens und der Feuerwerke, würde sie ihn allein erwischen. Sie würde ihn fragen, ob er Lust hätte, das Haus anzusehen oder so was in der Art. Zu dem Zeitpunkt hätte er schon eine Menge getrunken und wäre nicht mehr schüchtern. Manche Männer brauchten einen Schubs. Den würde sie ihm geben.
Die Guy-Fawkes-Nacht wurde von allen, die für Tommy Peterson arbeiteten, sehnsüchtig erwartet. Es war der Abend, an dem jeder einen Bonus bekam. Die meisten Firmen machten das an Weihnachten, aber er war vor den Feiertagen zu sehr eingespannt, um Zeit dafür zu haben. Es war auch der Abend, an dem die Beförderungen ausgesprochen wurden, und Joe stand auf der Liste, obwohl er erst vor kurzem eingestellt worden war. Das wußte Millie von den Unterhaltungen beim Abendessen. Ihr Vater sprach ständig von Joes Talent und Ehrgeiz. Er hatte festgestellt, daß das Geschäft in Covent Garden aufgrund seiner Fähigkeiten bereits Gewinn abwarf. Millie vermutete, daß er viel von sich selbst in Joe sah. Von Harry war das nicht zu sagen. Er war schon seit drei Monaten in der Firma, und der Arme hatte noch immer keine großen Fortschritte gemacht. Sie wußte, daß er nicht mit dem Herzen dabei war, und allmählich begann das auch ihrem Vater zu dämmern. Er hatte große Hoffnungen auf Harry gesetzt, aber die wurden jetzt auf Joe übertragen. Obwohl sie nie mit ihrem Vater darüber gesprochen hatte, wußte sie, daß er entzückt wäre, wenn er eines Tages um sie anhalten würde. Joe war ganz schnell der Sohn geworden, den ihr Vater sich immer gewünscht hatte.
»Olive, ist mein Kleid für die Party schon angekommen?«
»Ja, Miss, es ist in Ihrem Schrank. Es ist sehr hübsch.«
Millie bat sie, es zu holen. Mit gerunzelter Stirn inspizierte sie es. Es war aus königsblauem Taft mit Puffärmeln und weitem Rock. Es war tatsächlich hübsch, aber nur hübsch reichte nicht. Sie brauchte etwas Umwerfendes. Sie würde zu ihrer Schneiderin gehen, sie würde nach Knightsbridge fahren und etwas wirklich Atemberaubendes finden. Das wäre teuer, aber mit etwas Glück würde die
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