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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Rücksicht zu nehmen. Sie stellte den Korb ab, klopfte ans Fenster und rief mit lauter Stimme nach ihrer Freundin. Frances rührte sich nicht, aber der Mann richtete sich auf. Er hat mich gehört, dachte sie. Gott sei Dank!
    Langsam, wie in Trance, bewegte sich der Mann zur Tür, und Kates Erleichterung verwandelte sich in Entsetzen, als sie sah, daß er ein Messer in der Hand hielt. Die Klinge schimmerte dunkel und feucht. Die gleiche Substanz, die auf dem Messer war, bedeckte seine Hände, seine Hemdbrust und lief in kleinen Rinnsalen über seine Wange.
    »Es ist Blut«, flüsterte sie. »O mein Gott, es ist Blut!«
    Mit einem Aufschrei taumelte sie vom Fenster zurück, verfing sich mit dem Absatz in ihrem Rocksaum und stürzte zu Boden. Die Tür wurde aufgerissen, und der Mann ging auf sie los. Sie hielt die Hände hoch, um sich zu schützen, aber das half ihr nichts. In dem Moment, bevor sein Messer zwischen ihre Rippen drang, sah sie in seine wahnsinnigen, unmenschlichen Augen und wußte, wer er war: Es war Jack the Ripper.

   19   
    F iona starrte auf die rohen Holztafeln, die aus dem schneebedeckten Boden ragten. Die linke, die ihres Vaters, war bereits verwittert, die ihrer Mutter und des Babys begannen sich gerade dunkel zu färben. Und daneben gab es ein ganz frisches Grab, auf dem das Holzkreuz noch hell und unverwittert war. Das ihres Bruders Charlie.
    Vor drei Tagen hatte ihr Roddy die Nachricht überbracht. Die Flußpolizei hatte eine Leiche aus der Themse gefischt – den Körper eines jungen Mannes von etwa sechzehn Jahren. Er war ins Leichenschauhaus gegangen, um ihn zu identifizieren – eine Aufgabe, die, wie er sagte, aufgrund der Zeit, die er im Wasser gelegen hatte, fast unmöglich war. Das Gesicht war nicht mehr zu erkennen, nur ein Büschel rotes Haar war noch übrig. Die Durchsuchung der Kleider des Leichnams bestätigte die Identität. In einer der Taschen befand sich eine verbeulte silberne Uhr mit der Inschrift: Sean Joseph Finnegan, Cork, 1850. Der Name ihres Großvaters. Die Uhr ihres Bruders. Sie wußte sofort, was es bedeutete, als Roddy sie in ihre Hand legte.
    Sie schloß die Augen, tiefe Verzweiflung überkam sie, und sie wünschte sich, neben ihnen in der Erde zu liegen. Tag für die Tag die erstickende Trauer und die Sehnsucht nach ihrer Familie – und nach Joe – waren unerträglich. Auch wenn sie sich wegen Seamie zusammenriß, gab es noch oft Momente, in denen sie daran dachte, sich selbst zu töten, weil der Schmerz nie nachließ.
    Um sich zu trösten, versuchte sie, sich das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen, wie sie es im Gedächtnis behalten wollte – lächelnd und lachend. Aber sie schaffte es nicht. Diese Bilder waren verschwunden. Alles, was vor ihrem inneren Auge auftauchte, war das Bild ihrer Mutter, die auf der Straße lag und verblutete. Fiona hatte ihre Schreie gehört und war aus dem Zimmer gestürzt. Sie ließ sich neben ihr auf die Knie fallen, preßte die Hände auf die Wunde und schrie um Hilfe. Leute kamen, taten, was sie konnten, aber Jacks Messer hatte ihre Mutter ins Herz getroffen. Dann war alles sehr schnell gegangen. Mit zitternden Händen hatte ihre Mutter ihr Gesicht berührt und Blut auf ihre Wange geschmiert, dann war ihr Körper schlaff geworden und ihr Blick stumpf und leer.
    Fiona wollte sich nicht mehr an diese Nacht erinnern, aber die Bilder spulten sich immer und immer wieder vor ihrem inneren Auge ab. Immer wieder sah sie ihre Mutter auf der Straße liegen, hörte das Baby weinen und Seamie auf dem Arm eines Polizisten schreien.
    Und Charlie … ständig sah sie ihn vor sich, wie er schreiend und Leute beiseite stoßend nach Adams Court hereinrannte. Sie sah seine verständislose Miene, als er auf ihre Mutter hinabblickte. Sie hatte ihn gerufen, und er hatte sich umgedreht, aber sein Blick war wirr, und er schien sie nicht zu erkennen. Er hatte ihre Mutter von der Straße aufgehoben und sie stöhnend und weinend an sich gedrückt. Er weigerte sich, sie herzugeben und schlug drei Polizisten zurück, bevor sie ihn schließlich überwältigten. Als sie ihn losließen, versuchte er, ihren Leib aus dem Leichenwagen zu ziehen. »Hör auf!« hatte Fiona ihn angeschrien. »Hör bitte auf!« Aber er gab nicht nach. Er warf sich gegen den Wagen, als er abfuhr, und dann lief er davon. Aus Adams Court in die Nacht hinaus. Niemand wußte, wohin er gegangen war. Roddy suchte Tage, schließlich Wochen nach ihm. Und dann wurde seine Leiche gefunden.

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