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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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überwinden. Als aufgewecktes, sensibles Kind war er fast immer fröhlich und seiner Schwester ergeben, deren Stimmungsschwankungen er genau registrierte. Wenn er spürte, daß sie sich in ihr Schneckenhaus zurückzog, machte er so lange Faxen, bis sie wieder lächelte, und wenn sie nicht mehr lächeln konnte, kletterte er auf ihren Schoß und legte seine Arme um sie, bis sie sich besser fühlte.
    Fiona hing nicht weniger an ihm. Er war alles, was sie noch hatte, sie ließ ihn ungern aus den Augen und gab ihn allenfalls in die Obhut von Roddy oder seiner Verlobten Grace Emmett. Sein sommersprossiges Gesicht und seine liebe Kinderstimme waren ihr einziger Trost.
    Jetzt sah sie ihn gerade an, als sie seinen Tee für ihn bereitete. Er saß am Tisch, hielt die Gabel in der Hand und wartete ungeduldig auf sein Essen. Sie stellte es vor ihn hin, und er machte sich gierig darüber her. Es reicht nicht für ein Kind im Wachstum, dachte sie. Er sollte Milch, Fleisch und frisches Gemüse kriegen. Doch mehr konnte Roddy nicht für sie tun. Er fütterte sie beide durch, und sein Gehalt reichte gerade dafür aus. Erst vor kurzem hatte er Seamie einen warmen Pullover gekauft, um ihn vor dem kalten Märzwetter zu schützen, und letzte Woche, zu ihrem achtzehnten Geburtstag, hatte er ihr einen neuen Schal geschenkt.
    Fiona war ihm dankbar für alles, aber sie fühlte sich auch schuldig. Sie sah, welche Blicke er und Grace austauschten. Sie wußte, daß die beiden längst verheiratet wären und unter dem gleichen Dach lebten, wenn sie und Seamie nicht wären. Seit November wohnten sie jetzt hier. In den letzten Wochen hatte sie ein wenig zugenommen und ihre hohlen Wangen verloren. Inzwischen konnte sie die Einkäufe machen und das Putzen und Waschen übernehmen. Es war an der Zeit, daß sie wieder arbeiten ging und ein Zimmer für sich und Seamie fand. Roddy konnte sie nicht ewig aushalten.
    Doch allein die Vorstellung, eine eigene Wohnung zu suchen, drückte sie nieder. Sie hatte kein Geld. Der Rest von Joes zwanzig Pfund war für Särge und Beerdigungen draufgegangen. Der Vermieter hatte den Inhalt ihrer Wohnung verkauft – die wenigen Möbel, das Geschirr, die Kleider ihrer Mutter, sogar die marineblauen Handschuhe, die Charlie ihr gekauft hatte, und den Erlös behalten anstelle der Miete, die sie ihm schuldete. Roddy war es gelungen, bei dem Verkauf ein Stück zu retten – eine Zigarrenkiste mit den Eheringen ihrer Eltern, mit Fotos und Dokumenten . Ihre Arbeit hatte sie auch verloren. Auf der Straße hatte sie zufällig eine Kollegin von Burton Tea getroffen und erfahren, daß ihre Stelle neu besetzt worden war. Ralph Jackson hatte jemand anderen gefunden. Sie konnte sich auf Arbeitssuche begeben, aber es konnte Wochen dauern, bis sie etwas fand, und dann würde es noch einen Monat dauern, bevor sie genügend Geld gespart hatte, um ein Zimmer zu mieten.
    Sie hatte auf Hilfe von ihrem Onkel Michael gehofft. Ihre Mutter hatte ihm nach dem Tod ihres Vater geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Vielleicht war der Brief nicht angekommen. Schon innerhalb Londons ging Post verloren und zwischen London und New York erst recht. Sie hatte sich vorgenommen, es noch einmal zu versuchen.
    Ein Ruf von unten riß sie aus ihren Gedanken. Es war Mrs. Norman, die Vermieterin. Sie ging auf den Treppenabsatz hinaus. Mrs. Norman stand unten an der Treppe und hielt einen Brief in der Hand. »Für dich, Liebes. Ist gerade gekommen«, sagte sie und wedelte ungeduldig mit dem Umschlag.
    Fiona nahm den Brief an sich, dankte ihr und enttäuschte sie dann, indem sie in Roddys Wohnung zurückkehrte, um ihn in Ruhe zu lesen. Er war von Burton Tea und an ihre Mutter adressiert. Die durchgestrichenen Anschriften zeigten, daß er von der Montague Street zum Adams Court und jetzt hierhergeschickt worden war. Sie öffnete ihn. In umständlichen Worten wurde Mrs. Patrick Finnegan informiert, daß ihre Eingabe um Entschädigung an die Firma Burton Tea abgelehnt worden sei, weil der Tod ihres Gatten auf die Unachtsamkeit seines Kollegen David O’Neill zurückzuführen sei und nicht auf die Firma selbst, weshalb keine Zahlung erfolge. Für weitere Angaben möge sie sich an Mr. J. Dawson, den Personalchef, wenden.
    Fiona faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag. Sie wußte nicht mehr, was bei den Besuchen ihrer Mutter in der Firma besprochen worden war. Sie versuchte, sich zu erinnern, um wieviel sie gebeten hatte. Um zehn Pfund? Um

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