Die Terranauten 030 - Blick in die Vergangenheit
wirkte er wie ein scheuer, sehr verletzlicher Junge, der sich mit tödlichen Waffen gegen eine Umgebung wehrt, die ihm pausenlos Schmerz zufügt. »Ich entschuldige«, sagte er, »und ich werde es ausrichten. Also gehe ich zu Myriam, und du begleitest Luzia. Wenn das nur keine Gerüchte gibt.«
Growan lachte. »Sicher gibt es Gerüchte. In meinem Alter kann man sich deshalb nur geschmeichelt fühlen.«
Carlos Lema blickte ihm nach, als er das Labor mit lebhaften Schritten verließ.
»Du hast ihm nichts gesagt?« fragte er. »Auch nicht von deinem Verdacht gegen Gayheen?«
Mar-Estos ging neben ihm zu der Zelle zurück, in der Shadow vor der Mistel saß. »Durch Verdächtigungen ist sein Vertrauen zu Gayheen nicht zu erschüttern«, erklärte er. »Und was hätte ich ihm sagen sollen? Daß wir alle losstürmten, um Myriam zu retten, daß Kun dabei getötet wurde, und wir dafür eine ganze Anzahl Grauer liquidierten? Er hätte gemerkt, daß etwas dahintersteckt, von dem er nichts weiß. Der Alte ist nicht dumm. Du schätzt ihn nicht richtig ein.«
»Aber …«
»Ruhig. Er kommt zurück.«
Growan steckte den Kopf durch den Spalt der aufgleitenden Tür. »Mir ist noch etwas eingefallen!« rief er. »Seit Myriam an dem Projekt ›Yggdrasil‹ mitarbeitet, hat sich der Informationsfluß erheblich verbessert. Ich hatte wohl die falschen Leute beauftragt. Wenn du heute zu ihr gehst, Estos, kannst du ihr ausrichten, daß ich sie zur Chef-Biologin ernannt habe. Die Forschungen unterstehen ab heute ausschließlich ihr.«
Der Kopf verschwand, und die Tür glitt in die Rasterung zurück.
»Na also!« sagte Mar-Estos. Er hätte zufrieden sein müssen, aber er war es nicht. Myriam war nun endgültig für ihn verloren. So schmerzhaft hatte er sich das nicht vorgestellt.
*
Myriam legte die Hände gegen die rauhe Haut Yggdrasils. Je länger sie sich mit dem Baum beschäftigte, desto häufiger ertappte sie sich dabei, daß sie die Pflanze als ein menschliches Wesen betrachtete, mit Augen, Nase, Ohren, Mund, Gliedmaßen und Haut.
Es war lächerlich, natürlich. Yggdrasil war eine Borstenkiefer. Ungewöhnlich hoch gewachsen zwar und mit einem Wurzelnetz, dessen Ausdehnung kaum glaublich war, aber immerhin ein Baum. Oder doch nicht?
»Wer bist du?« fragte Myriam. Sie glaubte, ihre Worte wie Vögel in der schweren Luft hängen zu sehen, bevor sie allmählich davontrieben. Sie preßte ihre Stirn gegen die Rinde Yggdrasils, doch es gab keine Antwort auf, ihre Frage.
›Eine Esche weiß ich, sie heißt Yggdrasil,
die hohe, umhüllt von hellem Nebel;
von dort kommt der Tau, der in Täler fällt,
immergrün steht sie am Urdbrunnen.‹
Die Verse der uralten Dichtung, die längst verlorengegangen war, kamen ihr in den Sinn. Mar-Estos hatte ihr das letzte Exemplar verschafft, von irgendeinem winzigen Planeten, wo ein Humo diese Kostbarkeit aufbewahrte.
›Ich sah Balder, dem blutenden Gott,
Odins Sohne, Unheil bestimmt:
Ob der Ebne stand aufgewachsen
der Zweig der Mistel, zart und schön.
Ihm ward der Zweig, der zart erschien,
zum herben Harmpfeil: Hödur schoß ihn;
und Frigg weinte in den Fensälen
und Walhalls Weh – wißt ihr noch mehr?!‹
Mehr als zweitausend Jahre lagen zwischen der Dichtung dieser Verse und diesem Tal; das Mayor terGorden Ödrödir genannt hatte. War Yggdrasil die Yggdrasil aus der Sage, oder war sie nur ein uralter Baum?
»Ich hätte diese Sache nie angefangen«, erklärte Myriam dem schweigenden Baum, »wenn du nicht gewesen wärst. Warum können deine Misteln Verbindung mit dem menschlichen Bewußtsein aufnehmen? Ist es dein Wille, der dahintersteht, oder eine Laune der Natur? Oder ist alles nur Einbildung der Menschen, die einen Katalysator zu brauchen glauben für Kräfte, die sie immer noch nicht verstehen?«
Myriam schloß die Augen, um alle äußeren Einflüsse auszuschließen, und horchte in sich hinein, aber es gab nichts, absolut nichts. Yggdrasil schwieg, hur ihre Äste bewegten sich ächzend in einem schwachen Luftzug.
›Drei Wurzeln gehen nach drei Seiten von der Esche Yggdrasil;
Hei wohnt unter einer, unter der anderen die Reifthursen,
unter der dritten der Degen Volk.
Die Esche Yggdrasil muß Unbill leiden, mehr, als man meint:
Der Hirsch äst den Wipfel, die Wurzeln nagt Nidhögg,
an den Flanken Fäulnis frißt.
Nagezahn heißt das Eichhorn, das immer rennt auf der Esche Yggdrasil:
Von oben her soll es des Adlers Wort
zu Nidhögg niedertragen.‹
Myriam hieb
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