Die Teufelsbibel
Ansammlung von Vexierkolben, Phiolen, Mörsern und Flaschen mit undefinierbarem Inhalt hinterlassen, die Andrej verkauft hatte, um sich zwei Stühle zu seinem Tisch leisten zu können. Er hätte auch nur einen Stuhl kaufen und damit einen Teil des Verkaufserlöses der Alchimistenküche sparen können, doch es war ihm erschienen, als sei er nicht ganz so allein, wenn wenigstens ein weiterer Stuhl im Haus war und andeutete, dass irgendwann vielleicht irgendjemand kommen und sich darauf niederlassen könnte. Sein Vorgänger hatte außerdem einen mysteriösen sternförmigen braunen Fleck an einer der mit vielen Flecken übersäten Wände hinterlassen, und Andrej wurde den Verdacht nicht los, dass sein Vorgänger gar nicht über Nacht gepackt und Prag verlassen hatte, sondern immer noch da war. Bis jetzt hatte Andrej es vermieden, dem Fleck mit Wasser und einem Lappen zu Leibe zu rücken; er war nicht scharf darauf, womöglich zu entdecken, dass der Fleck sich in rote Flüssigkeit auflöste. Er hatte den Tisch neben die Eingangstürunter das eine der beiden Fenster gerückt und die Stühle so danebengestellt, dass sie einander gegenüberstanden. Nach einigen Wochen war es Andrej leid geworden, den leeren Stuhl zu betrachten; er hatte den seinen herumgedreht, so dass er zum Fenster hinausblicken konnte. Nicht, dass dort draußen etwas Interessanteres zu sehen gewesen wäre als der ständige Rauch und Nebel, die abblätternden Fassaden der Häuschenreihe gegenüber und gelegentlich eine Gestalt, die schnell über das Pflaster huschte. Jeder in der Goldmachergasse schien geduckt zu gehen und sich zu beeilen; das Verhalten der Bewohner trug dazu dabei, dass man sich in einem Reich wähnte, das nur halb real war und in dem die Lebenden mit den Geistern der Toten um die Wette spukten.
Halb real, dachte Andrej. Mehr ist es auch nicht. Alle hier leben von der Gnade des Kaisers – oder besser gesagt: von seiner Verrücktheit. Morgen kann es ihm einfallen, alles hier niederreißen zu lassen oder alle hilflos rätselnden Astronomen, ergebnislos forschenden Alchimisten, Unsinn schwätzenden Traumdeuter, fälschenden Raritätensammler und meine eigene jämmerliche Wenigkeit in Käfige zu stecken und im Hirschgarten aufzuhängen, um uns dort beim Verrotten zuzusehen. Er dachte an den Mann, den er heute wieder in seiner Sammlung aufgesucht hatte – das erste Mal nach Wochen der Abstinenz. In der warmen Jahreszeit gab es Wochen, in denen er dem Kaiser näher war und ihn öfter sah als jeder seiner Höflinge, einschließlich seiner Familie oder seiner seit Jahren einsam resignierenden spanischen Verlobten; nicht, dass diese Nähe dazu geführt hätte, dass Andrej seine Angst verlor, ganz im Gegenteil. An manchen Tagen sah er geradezu den Gefangenen, der im immer grotesker werdenden Körper des Kaisers steckte, aus den Gitterfenstern der wimpernverhangenen Augen spähen, sah er Rudolf von Habsburg, deformiert durch ein Leben der Unterdrückung, der erbarmungslosen Abrichtung, in Ketten gelegt durch die Reflexe der spanischenHoferziehung und von Anfang missverstanden, ungeliebt, am falschen Ort, mit der falschen Aufgabe betraut. Und er sah die Verzweiflung, zu der der Geist des Kaisers des Heiligen Römischen Reichs geronnen war, aus den wässrigen Pupillen starren. An diesen Tagen wartete Andrej darauf, dass sich das unförmige Monster, das vor ihm in den Kissen lag, plötzlich brüllend über ihn wälzen und ihn verschlingen würde; er brauchte alle seine Kraft, um seine Stimme ruhig und sein Gesicht ausdruckslos bleiben zu lassen. Kaiser Rudolf war an drei von sieben Tagen vollkommen unzurechnungsfähig, aber mit der Schlauheit der Verrückten durchschaute er sofort, welche Gefühle sein Gegenüber beherrschten, wenn man sich nicht sehr vorsah. Andrej war nicht sicher, was der Kaiser, wenn er die Todesangst seines fabulator principatus gespürt hätte, getan hätte, und er wollte es nicht darauf ankommen lassen, es herauszufinden.
Kaiser Rudolf war heute nicht in seiner Sammlung gewesen, sondern hatte im Bett in seinem Schlafzimmer gelegen. Er schien friedlicher Stimmung gewesen zu sein, denn er hatte sogar seinem Leibarzt erlaubt, ihn zu untersuchen. Ein wochenlanger Anfall von völliger Ablehnung jedweder Körperhygiene war vor wenigen Tagen zu Ende gegangen, die Mägde hatten die Decken, Bettvorhänge und die Teppiche verbrannt und dafür gesorgt, dass Ersatz kam, hatten die Fenster geöffnet und in einem zweitägigen Kampf den
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