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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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einziges Mal zu nahe getreten, hatte noch nicht einmal so viel getan wie die Hand auf ihre Stuhllehne zu legen. Wenn man in ganz Prag nach einem Mann suchte, der sich seiner Verlobten gegenüber absolut untadelig, ritterlich und liebenswert verhielt, dann hätte man zuerst in das Haus der Familie Wilfing gehen und nach dem jungen Herrn fragen müssen.
    Als das Stimmengewirr unten abrupt abbrach, meinte Agnes, die Stille klingen zu hören. Dann hörte sie, wie ein Stuhl umfiel – der Laut flatterte durch das Treppenhaus. Sie fuhr zusammen.
    »Nein!«, hörte sie die Stimme von Sebastian Wilfing senior, zuverlässig in höchste Tonlagen steuernd. Sie schnitt durch zwei Deckenkonstruktionen aus Brettern, Stroh und Parkett, als wäre es nichts. »Das ist unsere Sache als Hausherren …« Seine Stimme brach und schnappte über.
    Die Hausherren waren Sebastian senior und Agnes’ Vater gemeinsam. Sie hatten nebeneinanderliegende Häuser auf dem dreieckigen Platz gekauft, in dessen Mitte der Goldene Brunnen lag, hatten sie umbauen lassen und in eine Art Festung von Geschäftssinn und Partnerschaft verwandelt, in der beide Familien samt Gesinde und Kontoristen Platz gefunden hätten, selbst wenn im Hause Wiegant außer Agnes noch andere Kinder gewesen wären und wenn Sebastian Wilfing nicht seine jüngeren Sprösslinge in der Obhut eines Bruders in Wien gelassen hätte. Seit ihrer gemeinsamen Ankunft hier inPrag hatte sich allerdings eine Konstellation ergeben, in der Sebastian junior wie der Hausherr auftrat, Sebastian senior und Niklas Wiegant ihm die Zügel ließen, Theresia Wiegant mit einem Gesicht, mit dem man Eier hätte abschrecken können, dabei zusah und Agnes der Sand im Getriebe dieses künstlich aufrechterhaltenen Ablaufs war. Agnes hörte die Schritte der beiden älteren Männer im Treppenhaus. Sie erstarrte, als sie dachte, sie kämen nach oben, doch dann wurde ihr klar, dass Niklas und Sebastian nach unten eilten.
    Das Geschehen unterschied sich so massiv von der Komödie der letzten Wochen, dass Agnes plötzlich Neugier empfand. Sie schlüpfte aus dem Bett, huschte über den kalten Bretterboden und spähte zum Fenster hinaus. Mit etwas Mühe konnte sie den Gassenabschnitt direkt vor ihrem Eingang einsehen. Sie erkannte die langen Schatten, die drei Gestalten warfen und die von diesen und dem beleuchteten Eingang wegstrebten. Zwei der Schatten gehörten zum Gesinde, der dritte stand mitten vor dem Eingang und schien von den beiden anderen aufgehalten worden zu sein. Das dicke Glas beschlug von Agnes’ Atem. Sie wischte mit dem Handballen darüber.
    Die dritte Gestalt stand reglos in der Gasse, eine breite Kappe mit drei Hörnern bedeckte den Kopf, ein langer Magistratsmantel mit einem mächtigen Pelzkragen versteckte das Gesicht. Überrascht begriff sie, dass die Kopfbedeckung ein Birett war und zu einem Priester gehörte.
    Als sie beobachtete, wie ihr Vater und Sebastian Wilfing senior die Gasse betraten und dicht vor dem Priester stehenblieben, öffnete sie vorsichtig den Riegel und zog das Fenster ein Stück auf. Die Kälte strömte herein und machte ihr bewusst, dass sie nur ihr Hemd trug.
    »Du kannst hier nicht herein«, hörte sie ihren Vater sagen und erinnerte sich plötzlich an den Dominikanerpater, der vor ungefähr einem ganzen Leben in ihrem Haus in Wienaufgetaucht war und den Vater herzlich begrüßt hatte. Sie merkte, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen war. Es machte sie so ärgerlich, dass sie die Fäuste ballte und wieder ans Fenster trat. Die Versuchung, den nächstbesten schweren Gegenstand zu nehmen und ihn aus zehn Klaftern Höhe auf das Birett fallen zu lassen, war fast unwiderstehlich. Sie dachte an den fühllosen Blick, mit dem der Dominikaner sie in der Stube ihres Vaters in Wien betrachtet hatte, und erschauerte vor Wut und Furcht gleichermaßen.
    Der Priester murmelte etwas.
    »Nein«, sagte Niklas Wiegant. »Der Respekt vor deinem Gewand geht nicht so weit.«
    »Wie hast du uns überhaupt hier gefunden ?«, quiekte Sebastian Wilfing, räusperte sich und brummte: »… gefunden?«
    »Das spielt keine Rolle, Sebastian. Er darf nicht eintreten. Nicht mehr. Zu viel ist geschehen seit seinem letzten Besuch.«
    Agnes verfolgte den Wortwechsel überrascht. Sie hätte nie erwartet, dass ihr Vater gegen seinen alten Gefährten aus spanischen Zeiten Stellung beziehen würde, und doch hörte sie ihm soeben dabei zu. Und Sebastian Wilfing leistete ihm sogar Beistand.

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