Die Teufelsbibel
Ein Gefühl, das sie selbst nicht hätte beschreiben können, regte sich in ihrem Leib. Agnes war sich bis auf die letzten Monate der Liebe ihres Vaters stets sicher gewesen, und nun schien es plötzlich, als könne sie dies wieder sein: der Dominikaner war gekommen und hatte aus Agnes’ Existenz einen Trümmerhaufen gemacht, und Agnes’ Vater hielt seinem alten Freund dies nun vor und verweigerte ihm den Zutritt zu ihrem Haus. Ihr Herz schlug heftig. Sie bemerkte nicht, dass die Stimme in ihr, die in der letzten Zeit stets mechanisch Einspruch erhoben hatte, wenn sie an Niklas Wiegant als ihren Vater dachte, diesmal schwieg.
Der Priester machte einen Schritt vorwärts, als wolle er einfach zwischen den beiden Männern hindurchgehen. Niklas Wiegant und Sebastian Wilfing nahmen sich an den Händenund versperrten ihm den Weg. Agnes hielt den Atem an. Die beiden Alten machten den Eindruck, als würden sie sich eher totschlagen lassen, als dem dunklen Priester auch nur eine Elle weiteren Raum zu geben.
Sie sah das Birett langsam nicken. Am liebsten hätte sie die Faust aus dem Fenster gereckt und geschrien: »Zieh ab, du Teufel!« Sie besaß genug Geistesgegenwart, sich stattdessen am Fenstergriff festzuhalten, als wolle sie ihn herausreißen.
Der dunkle Mann wandte sich ab, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Seine schwarze Kleidung verschmolz mit seinem Schatten und dieser mit der Dunkelheit außerhalb des Lichtkreises des Hauseingangs. Dann drehte er sich um und sah über die Schulter nach oben – als ob er gespürt hätte, dass Agnes dort oben stand. Sie wollte zurückweichen, doch dann traf sein Blick sie, und sie blieb stehen. Es gab keine Beine mehr, die sie hätten tragen können; es gab keinen Körper mehr, der so etwas wie Beine aufgewiesen hätte. Alles, was es gab, war ihre Seele, und dass sie nicht im selben Augenblick verging, lag an den Augen des dunklen Priesters, die sie bannten. Alles, was sie sah, war sein Blick. Alles, was sie hörte, war der Schlag ihres Herzens, der hallte, als poche es in einer weiten, menschenleeren Kathedrale. Hinterher fragte sie sich, ob der Mann unten in der Gasse sie überhaupt hatte sehen können, doch im Moment des Geschehens gab es keinerlei Zweifel, dass er sie erkannte. Sie erkannte ihn ja ebenso.
Der dunkle Priester war Cyprian Khlesl.
Das Haus war erst zur Ruhe gekommen, als man draußen die Nachtwache schon ihre Runden ziehen hörte: Alles ist gut! Tatsächlich war nichts gut. Agnes lag auf ihrer Seite des Bettes, versuchte flach zu atmen und nicht von ihrem eigenen Pulsschlag erstickt zu werden. Es hatte Geschrei gegeben. Zum ersten Mal war Agnes bewusst geworden, dass die Stimme Sebastian Wilfings junior in der Aufregung ebensoquiekte wie die seines Vaters. Sie hatte jedes Wort verstehen können; von der eher rätselhaften Tirade darüber, dass auf niemanden Verlass sei und jeder Richter in Wien sein Fähnlein in den gerade am stärksten wehenden Wind hänge statt in den steten Lufthauch der Gerechtigkeit, bis zu der erstaunlich vielfältigen Eruption von Schimpfwörtern, mit denen der junge Herr Khlesl bedacht wurde und der dem Nimbus des jungen Herrn Wilfing als beispielhafter Lieblingsschwiegersohn eine größere Delle verpasst hätte, hätte ihn jemand anderer gehört als die Menschen, die ihn ohnehin kannten. Als sich die Lage endlich beruhigte, hatte das Haus förmlich nachvibriert von dem Hass, der in der Stube im ersten Stock freigelassen worden war.
Die Magd schniefte und schmatzte im Schlaf. Agnes horchte auf das Knacken, mit dem sich die Balken entspannten, als die unsichere Wärme im Inneren des Hauses von der Februarkälte besiegt wurde, auf das Ticken der Holzkäfer im Gebälk und auf Geräusche, die darauf hingedeutet hätten, dass unter den Bewohnern des Hauses noch jemand wach war. Was Letzteres betraf, so hätten sie und die Magd ganz allein in dem mächtigen Bau sein können.
Agnes fühlte ihren Herzschlag in der Kehle, als sie sich langsam aufrichtete. Es war ihr nie aufgefallen, wie sehr das Bett sich bewegte, wenn man darin nicht still lag. Der Atem der Magd geriet ins Stocken. Agnes wagte nicht einmal mehr zu schlucken. Die Magd begann zu schnarchen. Agnes schwang die Beine aus dem Bett und tastete nach ihren Schuhen. Erst als das kalte Leder ihre Füße umfing und ihre Haut in der Kälte zu kribbeln begann, wagte sie wieder zu atmen. Ihr Herz pochte in ihren Ohren.
Sie stand auf – der Holzboden knarrte. Sie verfluchte ihn und
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