Die Teufelsbibel
lag an der Kessellage hier in Prag, da konnte die Kälte nicht abziehen. – Der Vorteil war, dass man wenigstens noch nicht im Matsch in den Gassen versank; esging die Sage, dass in Wien jedes Frühjahr ganze Ochsenkarren samt Zugtieren, Ladung und Lenker im Morast versanken und nie wieder gefunden wurden. – Und wenn dann der erste warme Windhauch kam, zitterten die weißen Blüten, und man wusste, dass der Lenz endlich da war. – Ja, und gleich danach ersaufen deine Schneeglöckchen im Matsch, zusammen mit den Ochsenkarren! AAAAHahaha … hahahahAAAA – äh? – was ist los, Agnes, iss doch wenigstens was, mein Kind.
In Agnes’ Herz würde der Frühling niemals ankommen. In ihm war Winter, seit sie Hals über Kopf Wien verlassen hatten und hierher nach Prag gekommen waren, und eine eisige Kälte, wenn sie daran zurückdachte, wie Cyprian sie verraten und sein Versprechen gebrochen hatte. Virginia? Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Und – am bittersten von allem: Wir müssen uns nicht verstecken oder weglaufen. Nein, wir gehen ihnen entgegen. Statt ihrem Vater und den anderen entgegenzugehen, hatte Cyprian die Beine in die Hand genommen. Nicht, dass sie ihm unterstellt hätte, es aus Feigheit getan zu haben. Nein, es war seine Sturheit gewesen, seine gnadenlose Halsstarrigkeit, wenn er ein Verhalten für sich als richtig und ehrenhaft einschätzte; er würde dann nicht mehr anders handeln, und wenn alle Heiligen selbst auferstünden, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Alles, was er getan hatte, war, sie zu beschwichtigen, sie zu beruhigen, ihr Rauch in die Augen zu blasen mit seinen Beteuerungen, dass er seine Meinung geändert habe und mit ihr fliehen, wolle. In Wahrheit hatte immer noch gegolten, was er zuvor gesagt hatte: dass er es für falsch hielt, gemeinsam zu fliehen, anstatt mit dem Segen ihrer Familie zu gehen. Und wenn Herr Khlesl etwas für falsch hielt , dann hatte es falsch zu sein , und zwar für die ganze Welt! Natürlich hatte er sie nicht aus Boshaftigkeit angelogen, sondern um sie zu schonen, um die Erkenntnis abzupuffern, dass ihre Liebe sinnlos war. Sie hasste ihn dafür umso mehr. Wie hatte er sich so in der Gewalt habenkönnen, zu seinen falschen Schwüren auch noch zu lächeln, obwohl er wusste, dass die Konsequenz daraus das Todesurteil für ihre Liebe war! Sie zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass Cyprian sie liebte; das machte es nur umso schlimmer. Er hatte nicht nur ihr, sondern auch sich selbst den Dolch ins Herz gestoßen. Sie hasste ihn jetzt, sie hasste ihn, und gleichzeitig war jeder Tag, an dem er nicht in ihrer Nähe war, ein dunkler Tag aus Asche und sinnlos vertickenden Stunden.
Sie dachte an das Ritual, das sich all den Mahlzeiten anschloss, bei denen sie kaum etwas zu sich nahm (also den meisten): Jemand legte ihr etwas vor. In der Regel war es ihr Verlobter. Sein rundes, blondbärtiges Gesicht war besorgt. »Iss doch was, Agnes«, sagte er fast jedes Mal. »Du bist schon ganz dünn.«
»Kein Hunger«, sagte sie.
»Du musst mehr essen, sonst holst du dir in der Saukälte hier noch den Tod. Ich mach mir doch bloß Sorgen um dich, Liebes.«
Liebes!
Seit ihrer Ankunft hier war Sebastian von ausgesuchter Höflichkeit und Zuvorkommenheit gewesen. Er hatte es geduldet, dass sie sich tagelang in ihrem Zimmer aufgehalten hatte; er hatte es hingenommen, dass sie sich danach geweigert hatte, auch nur ein Wort mit ihm zu sprechen; er hatte es ertragen, dass sie einige Male einen Teller, auf dem er ihr vorgelegt hatte, einfach wortlos umgedreht und den Inhalt auf den Boden geschüttet hatte. Wenn Theresia Wiegant ihre Tochter mit beißenden Worten zurechtwies, so dass man meinte, die Temperatur fiele noch ein paar weitere Grade, hatte er Agnes in Schutz genommen; wenn Niklas Wiegant versucht hatte, ihr zuzureden, hatte er gebeten, sie in Ruhe zu lassen. Er war ein Mann mit einem Bauch, der für sein Alter zu groß war, O-Beinen, runden Schultern und einem klotzigen Kopf, dem man ansah, dass er halbwegs gut aussehend hätte sein können, wenn nicht so viel Speck an ihm gehangen hätte; nur wenn er lächelte, kam etwas von dem Charme durch, den seine Züge früher gehabt hatten.
Mit der Zeit hatte Agnes festgestellt, dass ihre Wut auf Cyprian größer war als die auf Sebastian, und das hatte sie noch mehr entsetzt als alles andere. Sie ertappte sich zusehends dabei, dass es ihr ein schlechtes Gewissen bereitete, ihn zu schneiden. Er war ihr noch kein
Weitere Kostenlose Bücher