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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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überrascht im Türrahmen stehen. Sie hatte sich mit der lautlosen Grazie derer bewegt, die sich in ihrem Körper vollkommen zu Hause fühlen. Niklas Wiegant putzte sich die Nase. Er saß mit dem Rücken zur Tür. Pater Xavier überlegte einen halben Herzschlag lang.
    »Und so ist es gekommen, dass Ihre Tochter Agnes in Wahrheit gar nicht Ihre Tochter ist«, sagte er laut.
    »Nicht im üblichen Sinn, Pater, aber …«
    »Weil Sie sie aus einem Findelhaus geholt und mit nach Hause gebracht haben.«
    »Ja, so ist es.«
    Pater Xavier lächelte auf Niklas Wiegant hinab. Die Gestalt in der Tür stand dort wie erstarrt. Pater Xavier konnte fast das Entsetzen fühlen, das von ihr ausstrahlte.
    »Und Sie haben es ihr nie gesagt?«
    »Nein! Ich dachte, ich sage es ihr vor der Hochzeit. Trotz all der Worte, die Theresia heute verloren hat, hat sie Agnesdoch nie die Wahrheit gesagt. Ich habe sie beschworen, es nicht zu tun, und sie hat sich daran gehalten.«
    »Vermutlich eher aus Widerwillen dem Kind und seiner Herkunft gegenüber als aus weiblichem Gehorsam.« Pater Xavier sah, wie die Gestalt in der Tür sich am Rahmen festhalten musste.
    »Sie dürfen Theresia nicht nach dem beurteilen, was sie heute gesagt hat.«
    »Und diese Heiratspläne?« Pater Xavier bedauerte, dass es ihm nicht möglich war, außerhalb seines Körpers zu treten und sich selbst dabei zuzusehen, wie er seine Waffen – Worte – gebrauchte. Wenn er Gespräche rückwirkend analysierte, dann analysierte er wie ein Kämpfer ein Gefecht: Parade – Finte – Ausfall. Pater Xaviers Gefechtstaktik bestand stets aus ein paar Paraden und dann einer langen Reihe wohlüberlegter, gnadenloser Ausfälle, deren jeder ein lebenswichtiges Organ traf.
    »Ich habe einen Geschäftspartner namens Sebastian Wilfing«, sagte Niklas Wiegant. »Zugleich ist er mein bester Freund. Sein ältester Sohn ist siebzehn Jahre alt; Sebastian und ich haben beschlossen, dass wir die Verlobung gleich nach der Fastenzeit bekannt geben wollen.«
    »O mein Gott«, sagte die Gestalt in der Tür.
    Niklas Wiegant fuhr herum. Pater Xavier spielte eine vollendete Pantomime des total Überraschten.
    »Agnes«, stammelte Niklas.
    »O mein Gott, Vater«, sagte Agnes. »O mein Gott, o mein Gott, o MEIN GOTT!«
    Sie warf sich herum und rannte in den Flur hinaus. Niklas Wiegant taumelte auf die Beine. »Agnes!«, schrie er. Er lief ihr hinterher. »Agnes, warte, mein Kind, warte! Wie lange hast du schon – wie lange bist du schon –?« Seine Stimme klang hysterisch vom engen Gang herein.
    Pater Xavier stand einen Augenblick lang in der leerenStube. Was für eine Geschichte, mein Freund, dachte er. Und ich glaube dir sogar jedes Wort, von den schrecklichen Zuständen in den Findelhäusern bis zu deinen immer wieder abgebrochenen Anläufen, ein Kind dort herauszuholen und es zu adoptieren. Du hast mich nur in einer Sache angelogen: Dieses Kind hast du nicht in einem Findelhaus hier in Wien gefunden. Ich weiß nicht, wo du es gefunden hast, und ich weiß nicht, warum du mich angelogen hast, aber ich werde mir diese Lüge merken.
    Dann machte er sich auf den Weg, seinen Geschäftspartner aus den alten Zeiten in Madrid einzuholen und zu verhindern, dass er seine Adoptivtochter rechtzeitig erreichte und die Sachlage klärte, bevor der Bruch zwischen allen Beteiligten im Hause Wiegant endgültig wurde. Während er die Treppe hinunterlief, lächelte er.
    2
    Agnes kam zu sich, als ihre Beine den Dienst versagten und sie sich auf den Boden setzte wie eine Lumpenpuppe. Sie musste so sehr nach Luft ringen, dass rote Flecken vor ihren Augen tanzten; sie hatte das Gefühl, dass sie im nächsten Augenblick ersticken würde. Nach und nach fiel ihr ein, warum sie geflohen war. Das Rauschen in ihren Ohren verklang, und sie konnte die Stimmen wieder hören:
    »… dass Ihre Tochter Agnes in Wahrheit gar nicht Ihre Tochter ist« – »So ist es.« – »Sie haben es ihr nie gesagt?« – »Aus Widerwillen dem Kind und seiner Herkunft gegenüber.« Sie spürte das Entsetzen von neuem, aber sie hatte keine Kraft mehr zu fliehen. Sie wusste, dass die Worte kein schlechter Scherz gewesen waren, weil ihr Vater keine schlechten Scherze machte, und auch keine Lüge, weil es gar keinen Grund gab, diese Geschichte zu erfinden; also stimmtesie, also war ihr Vater nicht ihr Vater und ihre Mutter nicht ihre Mutter, war ihr ganzes Leben eine Komödie, in der sie unwissentlich die Hauptrolle gespielt hatte. Agnes wusste

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