Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
Vom Netzwerk:
nicht, was dabei am meisten wehtat: die Geschichte an sich, die Schnelligkeit, mit der sie sie glaubte, der Umstand, dass sie manches merkwürdige Verhalten, manchen Seitenblick und manche rasch verschluckte Bemerkung ihrer Mutter vollkommen plausibel machte, die Entdeckung, dass ein wildfremder Mann die Wahrheit erfahren hatte, während man Agnes selbst mit Unwahrheiten gefüttert hatte – oder ganz einfach die Tatsache, dass die Worte von dem Menschen ausgesprochen worden waren, der ihre ganze, reine, unschuldige Zuneigung besaß und dessen Integrität sie noch auf dem Scheiterhaufen beschworen hätte: ihr Vater. Er hatte sie achtzehn Jahre lang nur angelogen.
    Agnes begann zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Sie sank in sich zusammen, begrub das Gesicht in den Händen, und während in ihrem Hirn die Erinnerung an den fremden Mann brannte, der in der Stube gestanden hatte wie eine unsichtbar flackernde Fackel aus Verachtung und Bosheit und ihr Innerstes von einer Mischung aus Enttäuschung, Wut und Trauer ausgefüllt wurde, schluchzte sie ihren Schmerz in den Straßenstaub.
    Agnes Wiegant war soeben getötet worden, und doch lebte sie. Agnes Wiegant hatte soeben ihre Familie verloren, und doch besaß sie Vater und Mutter. Agnes Wiegant hatte soeben entdeckt, dass sie nichts war, weniger als nichts, weniger als die niedrigsten der niedrigen Dienstboten in ihrem Haus, die, wenn auch schon sonst nichts, so doch die Gewissheit ihrer Herkunft besaßen.
    Ihre Schultern zuckten, ihr ganzer Körper wurde von ihren Schluchzern gestoßen. Sie schmeckte den Dreck auf der Straße, ihre eigenen Tränen und den Rotz, der ihr aus der Nase lief. Sie war eine treibende Seele im Meer einer Menschheit, zu dersie sich plötzlich nicht mehr zugehörig fühlte, ein einsames Blatt, das vom Baum losgerissen zur Erde taumelte. – Sie war all das und noch viele andere Dinge, die ihr das Herz herausrissen und ihre Seele pressten und sie heulen ließen wie ein Wolfsjunges, aber eigentlich war sie nur das: ein Kind, das plötzlich feststellt, dass es ganz allein im Wald ist, und das nicht einmal um Hilfe zu rufen wagt, weil es überzeugt ist, dass niemand es hören wird.
    Nach einer Weile ließ die schiere Erschöpfung sie verstummen. Sie hob den Kopf, wischte sich mit einer Hand, die vor Sand, Nässe und Schleim klebrig war, durch das Gesicht, zuckte vor sich selbst zusammen, wischte mit dem Ärmel nach und setzte sich schließlich auf. Ihr ganzer Körper schmerzte, als wäre jemand auf ihm herumgetrampelt. Sie schnaubte, als sich ihr der Vergleich aufdrängte. War es nicht genau so?
    Sie spürte die Tränen erneut in die Augen steigen, aber sie drängte sie zurück. Ihr Innerstes fühlte sich hohl an, ihre ganze Existenz ein ausgeblasenes Ei, dessen Schale brüchig ist und im Wind zittert. Die Kälte drang nun zu ihr durch; der Boden war trocken, aber der Frost eines langen Winters steckte noch in ihm und kroch über sie hinweg. Agnes starrte ihre Hände an – wo sie ihre Haut unter dem Dreck sehen konnte, war diese blau. Sie seufzte.
    »Agnes Wiegant«, flüsterte sie dann. Ihre Stimme war schwer und rau. Ihre Augen flossen nun doch über. »Reimt sich auf nichts und niemand.«
    »Dante würde sich im Grab rumdrehen«, sagte eine Stimme neben ihr.
    Sie fuhr herum. Zum ersten Mal nahm sie wahr, wo sie sich befand. Die Straße führte eine kurze, steile Böschung hinauf und traf oben auf eine Holzbrücke. Das Holz war schwarz im blassen Licht der Märzsonne, das wellige Land dahinter grau und erschöpft; die Berge eine Ahnung in Indigo, das wiezerfressen wirkte, weil der Schnee an ihren Flanken dieselbe Farbe wie der Himmel hatte. Sie konnte den Fluss nicht sehen, der unter der Brücke hindurchfloss, aber zur Rechten standen Häuser, Hütten und baufällige Buden in chaotischen Haufen nebeneinander; die tiefe Kluft, die geradewegs durch sie hindurchführte, musste der Flusslauf sein. Neben Agnes, so nahe, dass er sie mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können, hockte ein Mann auf den Fersen. Sein Haar war fast so kurz geschoren wie das eines Bauern, seine Schultern wirkten unter dem Wams rund und mächtig, seine Arme waren dick und sein ganzer Körper gespannt. Er blinzelte mit zusammengekniffenen Augen nach Westen in das müde Sonnenlicht hinein. Sie sah den Bartschatten auf seinen Wangen, der ihn wie einen Schurken und um viele Jahre älter wirken ließ. Schließlich wandte er den Kopf und schaute sie an; im Seitenlicht

Weitere Kostenlose Bücher