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Die Teufelshure

Die Teufelshure

Titel: Die Teufelshure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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weil sie vergessen hatte, sich nach seinem Befinden zu erkundigen, aber das konnte sie am Wochenende noch nachholen, wenn sie ihren sonntäglichen Pflichtanruf tätigte. Ihr Vater war seit mehr als zwanzig Jahren verwitwet. Lilian befürchtete, dass er vereinsamen würde, wenn sie sich nicht um ihn kümmerte.
    Vor dreißig Jahren hatte er ihre Mutter während seines Studiums in Edinburgh kennengelernt. Sie war Pharmakologin und arbeitete in einem Institut, bei dem er ein Praktikum absolviert hatte. Sie war um einiges älter gewesen als er, obwohl sie auf Bildern stets weitaus jünger gewirkt hatte.
    Nach Lilians Geburt vor knapp achtundzwanzig Jahren hatten sie für eine Weile in Berlin gelebt. Vier Jahre später war ihr Bruder geboren worden, und dann war die gesamte Familie in die Staaten ausgewandert. Kurz nach Lilians sechstem Geburtstag war ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die genauen Umstände des Unfalls waren nie aufgeklärt worden. Ellen von Stahl war allein auf einer schnurgeraden Strecke in Massachusetts unterwegs gewesen, als sich ihr Wagen überschlug und in Flammen aufging. Bis heute litt ihr Vater darunter, dass er nicht bei seiner Frau gewesen war, als das Unglück passierte.
    Für Lilian hingegen war ihre Mutter lediglich noch ein Schatten in ihrer Vergangenheit, an den sie sich kaum erinnern konnte. Sie vermisste sie nicht, und immerhin waren ihr Vater und Bruder geblieben. Als Alex älter geworden war, hatte Lilian gewissermaßen die Stelle ihrer Mutter übernommen und hatte sich um alltägliche Dinge gekümmert. Ihr Vater war meistens zu beschäftigt und ständig unterwegs. Ein einziges Mal im Leben hatte Lilian ausschließlich an sich selbst gedacht, mit achtzehn, als sie ihrer ersten großen Liebe begegnet und ihr Bruder auf die schiefe Bahn geraten war. Zuerst war es Marihuana gewesen, dann Ecstasy und schließlich Heroin. Dass Alex die Schule und sein Studium am Ende trotz allem erfolgreich absolvieren konnte, hatte er einzig seiner großen Schwester zu verdanken, die ihn mit konsequenter Strenge auf den Pfad der Tugend zurückgebracht hatte. Lilian hatte ihn auf Entzug geschickt und ihn währenddessen nicht aus den Augen gelassen.
    Erst gegen Abend kehrte Lilian zur Wohnung zurück. Den ganzen Tag über hatte sie ihre eigentliche Arbeit vernachlässigte und mit Alex’ mysteriösem Stoff herumexperimentiert. Ned und Ed, ein paar grauweiße Laborratten, hatten mit Hilfe einer kleinen, wohldosierten Injektion eine Reise in die visuelle Welt ihrer Vorfahren unternehmen dürfen. Vielleicht waren es die Erinnerungen von Schiffsratten gewesen, die ihre kleinen Gehirne überfluteten, die auf den Planken einer wogenden römischen Barkasse den Ärmelkanal überquerten. Jedenfalls hatten die Tiere sich merkwürdig verhalten. Schwankend und wie betrunken waren sie auf ihrem Hamsterrad herumgeklettert und hatten fortwährend ängstlich gefiept. Dumm war nur, dass sie Lilian nichts von ihren Abenteuern berichten konnten.
    Lilian fasste daher einen schwerwiegenden Entschluss. Am nächsten Samstag würde sie das Teufelszeug an sich selbst ausprobieren. Besser sie tat es, als wenn Alex es noch einmal versuchte. Doch sie wollte keine unnötigen Zeugen. Falls sie sich nach einer Injektion unerwartet in Miss Hyde verwandelte, sollte es niemand bemerken. Jenna würde am Freitag nach Bristol zu ihren Eltern fliegen und vor Sonntagabend nicht zurückkehren. Einen besseren Zeitpunkt gab es also nicht.
     
    Als Jenna am Abend zurückkehrte, hatte sie nichts wesentlich Neues zu berichten.
    »Wir haben Proben vom angeblichen Tatort genommen«, erklärte sie, während sie sich wie immer in der gemeinsamen Küche trafen. »Die Auswertung wird bis zum Freitag dauern. Drück mir die Daumen, dass die Ergebnisse negativ sind. Ich habe mich schon so auf das Wochenende mit meinen Eltern gefreut.«
    Lilian drückte die Daumen – aber nicht wegen Jennas Eltern. Wenn ihre Freundin am Wochenende zu Hause bliebe, wäre es fraglich, wann sie mit ihrem Versuch erneut zum Zuge kommen könnte. Eine Ausweichmöglichkeit hatte sie nicht. Nur in ihrer Wohnung würde sie ungestört sein.
    »Was ist denn jetzt?« Lilian war die Ungeduld anzumerken, als sie Jenna am Freitagmorgen an ihre Pläne fürs Wochenende erinnerte. »Bekommst du frei oder nicht?«
    Jenna saß gedankenverloren am Küchentisch und trank ihren Kaffee. Der Regen hatte aufgehört, auf das Dachfenster zu prasseln, und die Morgensonne verwandelte das

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