Die Teufelshure
er hatte danach noch sechs Tage mit zwölf toten Kameraden in einem stinkenden Keller verbringen müssen, bevor ihn die Franzosen mehr tot als lebendig in ein Lazarett gebracht hatten. Alex hatte die Ursprungsgeschichte nicht gekannt. Erst weitere Nachforschungen in seiner Familie hatten das Erlebnis des Urgroßvaters bestätigt.
»Sei vorsichtig«, hatte Lilian ihn gebeten. Alex hatte bereits vor seinem zwanzigsten Lebensjahr einschlägige Erfahrungen mit Drogen gesammelt. Nur seiner Schwester hatte er es zu verdanken gehabt, dass er nicht vollkommen ins Nirwana abgedriftet war.
»Keine Angst, Schwesterchen«, waren seine Worte gewesen, »niemand weiß besser als ich, wie man mit einem solchen Zeug umgehen muss.«
Lilian konnte sich zunächst unter dieser Vision, wie Alex sie beschrieb, nichts vorstellen. Seine wissenschaftlichen Darlegungen klangen durchaus fundiert und hatten nichts von jenem sinnlosen Gerede eines bekifften Wahnsinnigen, der er in seinen schlimmsten Zeiten einmal gewesen war.
»Der Schamane deutete an«, hatte er bei einem Anruf aus Den Haag vor wenigen Tagen berichtet, »dass nur die eindrücklichsten Erlebnisse in der Seele haften bleiben. Allerdings gehe ich davon aus, dass es nicht die Seele ist, die hier etwas speichert, sondern die Zell-DNA, die mit energetisch geladenen Informationen überschwemmt wird, sie aufnimmt und diese über die Zeugung neuen Lebens an nachfolgende Generationen weitergibt. Die Evolution«, fuhr er aufgeregt fort, »ist ein ständiger Anpassungsprozess der Natur. Dies geht nur über die biologische Registrierung und Weitergabe genetischer Erbinformationen. Wir konzentrieren uns in der Vererbungslehre ausschließlich auf körperliche Attribute wie Augen- und Hautfarbe als spezifische Rassemerkmale, die über Jahrtausende unter entsprechenden Lebensbedingungen zustande kommen. Warum aber sollte es nicht auch im psychologischen Bereich eine Weitergabe von Informationen geben? Das bedeutet: Wenn du eine schlechte oder eine gute Erfahrung machst, gibst du sie über die Zeugung eines Kindes unbewusst an die nächste Generation weiter, und dort ist sie ebenfalls über das Unterbewusstsein abrufbar.«
Lilian konnte sich kaum vorstellen, dass an der Sache etwas dran war, aber sie war neugierig genug, es notfalls an sich selbst auszuprobieren. In jedem Fall wollte sie zunächst die chemischen und genetischen Komponenten dieser Theorie näher unter die Lupe nehmen.
Ihre Untersuchungen im Labor hatten die Theorie ihres Bruders bereits insoweit bestärkt, als dass die Schamanendroge offenbar eine Art Neurotransmitter enthielt, der in der Lage war, eine energetische Verbindung zwischen der menschlichen Zell-DNA und den neuronalen Netzwerken des menschlichen Gehirns herzustellen.
»Was ist passiert?« Lilian sah Jenna leicht vorwurfsvoll an, als sie halb angezogen in der Küche erschien.
Jenna antwortete nicht sogleich, sondern knöpfte sich ihre Bluse zu und zog mit einer fließenden Bewegung ihre graue Kostümjacke über. Im Gegensatz zu Lilian, die üppige Rundungen besaß und mit ihrer dunkelbraunen Mähne und den gleichfarbigen Augen einer feurigen Spanierin glich, hatte Jenna eine maskuline Figur und gab gern die kühle Blonde mit Kurzhaarschnitt. Die Frisur so korrekt wie die Kleidung, hätte sie eher ein Kerl sein können. Dass sie im Bett eher Frauen bevorzugte als Männer, tat ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch. Zumal Lilian gleich zu Beginn ihrer ersten Begegnung die Fronten geklärt hatte.
Jenna warf ihr die aktuelle Tageszeitung auf den Frühstückstisch. Lilian schaute verwundert auf.
»Lies«, sagte Jenna und deutete mit dem Zeigefinger auf einen Artikel, bei dem nur die Überschrift ins Auge stach.
Zeugen gesucht
, stand dort in fettgedruckten Lettern. Darunter eine kurze Meldung.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist es im Containerhafen von Leith zu einem Überfall gekommen. Obwohl es weder sichtbare Spuren noch eine Leiche gibt, will ein Augenzeuge gesehen haben, wie einem Mann der Kopf abgeschlagen wurde. Den Aussagen des Zeugen zufolge handelte es sich bei den Angreifern um mehrere Männer. Einer von ihnen hatte einen Highland-Akzent, ein anderer war offenbar irischer Herkunft. Das Opfer stammte nach Angaben des Zeugen vermutlich aus dem lateinamerikanischen Raum. Die Polizei von East Lothian bittet um Hinweise aus der Bevölkerung.
»
Und?« Lilian sah Jenna fragend an, während sie an ihrer Teetasse schlürfte. »Ist das nicht Sache der
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