Die Teufelshure
die Erinnerungen zu nehmen. Erst recht, wenn es neuerdings einen Stoff gibt, der diese Wirkung jederzeit aufheben kann. Außerdem befinden sie sich in ständiger Gefahr, von Cuninghames Schergen geschnappt zu werden.«
»Was willst du damit andeuten?«
»Nichts, Bran. Nur dass es nicht leicht werden wird.«
34
Norwegen 2009 – »FOXO3A«
Lilian fühlte sich immer noch, als säße sie im falschen Film, während sie sich – scheinbar abgeschirmt von der Realität – die Zähne putzte. Dabei betrachtete sie ihr ungläubig wirkendes Gesicht in einem beleuchteten Wandspiegel, die Mundwinkel voll mit weißem Schaum, die Augen umrandet von dunklen Erschöpfungsringen. In einem Beistellschränkchen neben dem Kühlschrank fand sie einen uralten schottischen Whisky. Mehr trotzig als überzeugt nahm sie sich ein Wasserglas von einem Wandbord und schenkte sich halbvoll ein. In kleinen, kontrollierten Schlucken ließ sie die golden schimmernde Flüssigkeit die Kehle hinunterlaufen. Es brannte im Gaumen und wärmte ihr den Magen, ein Beweis, dass sie nicht träumte und sich wirklich hier unten in diesem ominösen Bunker befand, beinahe tausend Meilen von Edinburgh entfernt.
Als sie sich in Slip und T-Shirt ins Bett legte und den Kopf in das frischbezogene Kissen sinken ließ, war sie zu müde, um weiter darüber nachzudenken, was als Nächstes passieren könnte. Irgendetwas hoffte im hinterletzten Winkel ihres Herzens, dass John wirklich zu den guten Jungs gehörte, obwohl es ihr nicht wahrscheinlich erschien. Immerhin hatte er vor ihren Augen auf ziemlich grausame Weise mehrere Menschen umgebracht. Eine sanfte Stimme flüsterte ihr zu, dass er vielleicht wirklich eine Art Spezialagent war, der im Auftrag der Regierung arbeitete und dass er einfach nicht anders handeln konnte, weil sie brutal angegriffen worden waren und die Kerle sie vielleicht andernfalls umgebracht hätten. Aber warum hatte er so hemmungslos vorgehen müssen? Und was war mit Alex? Wenn das alles wirklich geschehen war – welche Rolle spielte er darin? Ein böser Verdacht keimte in ihr auf. Ihr Bruder hatte ihr die Droge zugänglich gemacht. Ohne Ayanasca wäre die ganze Angelegenheit gar nicht ins Rollen gekommen. Was wäre, wenn er ihr die Droge mit Absicht gegeben hatte? Vielleicht war alles Nachfolgende nur inszeniert?
Immer wieder kreisten ihre Gedanken um jenen Abend und die Geschehnisse in der Tiefgarage, die sich jedem Ansatz von Logik versagten. Nein, John konnte unmöglich mit dem recht behalten, was er von Alex behauptet hatte. Allein die Aussage, dass er an einem Kopfschuss nicht sterben konnte, machte das Ganze zu einer Farce. Sosehr sie sich auch bemühte, die Fakten zusammenzubringen – es ergab keinen Sinn. Die schwere Verletzung, die fehlenden Spuren und Johns Behauptung, dass ihr Bruder angeblich zu einer Art internationale Drogenmafia gehören sollte. Einfach absurd!
Sie hatte das Licht längst gelöscht, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Schlaftrunken schreckte sie hoch. Als sie das Licht einschalten wollte, funktionierte der Schalter nicht. Stattdessen hatte sie das Gefühl, dass irgendjemand in ihrem Bett lag. Etwas bewegte sich hinter ihr, und sie hörte ein leises rasselndes Atmen. Der Puls schoss ihr in die Höhe, und als sie sich ganz langsam umdrehte, schlug ihr das Herz bis zum Hals hinauf. Sie blickte in die Fratze eines Ungeheuers, das ihr irgendwo schon einmal begegnet war. Merkwürdig war, dass sie den Mann selbst bei völliger Dunkelheit klar erkennen konnte. Seine Augen glühten, die Haut spannte sich alt und vertrocknet um seinen Schädel, als ob er tausend Jahre in der Wüste gelegen hätte. Lilian wollte schreien, erst recht, als sie plötzlich wusste, um wen es sich handelte, doch es ging nicht. Er war es, der in ihren Visionen dafür verantwortlich gewesen war, dass man ihr das Kind aus dem Bauch herausgeschnitten hatte. Er war es, der den blutbesudelten Säugling mit seinem dürren Zeigefinger berührt und ihn damit zum Leben erweckt hatte. Der Schock über den unheimlichen Eindringling war so heftig, dass Lilian glaubte, daran ersticken zu müssen.
Ihr erster Gedanke war Flucht, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht.
»Hallo, Madlen …«, sagte die dunkle Stimme. »So sieht man sich wieder.«
Madlen? Was hatte das zu bedeuten? Ihr Mund wollte schreien, aber ihre Lippen bewegten sich nur lautlos.
Er streckte ihr seine knochige Hand entgegen und streichelte ihr beinahe liebevoll über den Kopf.
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