Die Teufelshure
»Schön, dass du uns wieder geschenkt wurdest. Ich habe vor langer Zeit deine Seele gezeichnet, in dem Wissen, dass sie eines Tages zu mir zurückkehren wird. Dass du in Lilian endlich wiedergeboren wurdest, hatte ich kaum noch erwartet. Du solltest bereits viel früher erscheinen, aber nun ist die Zeit endlich reif, um dich deiner Mission zuzuführen.«
Lilian schaffte es nicht, seinem hypnotisierenden Blick zu widerstehen.
Es war, als ob seine Worte sich in ihren Verstand hineinbrannten. »Hör gut zu«, zischte er in einer beschwörenden Weise, »das Folgende werde ich nur einmal sagen, und du wirst mir gehorchen, denn das Leben deines Vaters und deines Bruders liegt in meiner Hand. Du gehörst zur Familie – und damit gehörst du zu mir. Hast du mich verstanden?«
Lilian nickte mechanisch. Nicht fähig zu sprechen, starrte sie nur auf die lange Nase des Alten.
»Gut.« Er lächelte hintergründig. »Du befindest dich also in der Gewalt von John Cameron. Das war beabsichtigt und wird sich bald ändern. Er ist unser erklärter Feind, und du wirst es sein, die uns hilft, ihn zu vernichten.«
Wieder nickte Lilian, und dabei war sie sicher, dass sie es nicht freiwillig tat.
»Du besitzt seit ewigen Zeiten das Herz dieses Mannes, nur dir wird er sich öffnen und vertrauen. Dieses Vertrauen wirst du nutzen, um seine Waffe an dich zu nehmen, sobald du ihm nahe genug kommst, um ihn in meinem Auftrag töten zu können.«
Bilder flackerten in Lilian auf, wie sie eine Waffe zog und sie John auf die Stirn setzte, wie sie abdrückte – wieder und wieder – und ihm den Schädel vollkommen zertrümmerte.
»Du hast nur einen Versuch«, zischte die Stimme. »Solltest du versagen, wird John Cameron persönlich dafür sorgen, dass man
dich
tötet, denn das ist seine Pflicht, wenn er erfährt, dass du in meinem Auftrag gehandelt hast. Also, wenn du scheitern solltest, werde ich mich um das Schicksal deiner Familie kümmern müssen.« Wieder lachte er hintergründig.
Lilian lief ein Schauer über den Rücken, und vor ihrem geistigen Auge sah sie ihren Bruder, der auf einer modernen Variante der eisernen Jungfrau grausam gefoltert wurde, und ihren Vater – splitternackt mit den Füßen nach oben in einer eisernen Konstruktion aufgehängt, als ob er ein zur Schlachtung bestimmtes Tier sei. Eine schwarzgewandete Gestalt durchschnitt mit einem einzigen Streich seine Kehle, und anschließend fing sie sein Blut in einer goldenen Schale auf.
Angeekelt wandte Lilian sich ab.
Sie spürte die eisigen Fingerspitzen des Fremden auf ihrer Stirn. Es war, als ob sich seine Kälte auf ihr Innerstes übertrug, gleichzeitig brach ihr der Schweiß aus, und ihr wurde übel. Dann war er plötzlich verschwunden.
Lilian erwachte wie aus einer Trance. Es war immer noch stockdunkel. In Panik versuchte sie es noch einmal, den Lichtschalter zu finden. Als es endlich hell wurde, überzeugte sie sich davon, dass der Platz neben ihr tatsächlich leer war. Noch nicht einmal der Abdruck eines Körpers war zu sehen. Wieder eine dieser schrecklichen Visionen! Möglicherweise eine Nachwirkung der Ayanasca-Droge, oder diese merkwürdige Umgebung und der undurchsichtige Anlass ihrer Anwesenheit taten ein Übriges. Ihr Herz klopfte immer noch hart, und am liebsten hätte sie ihren Vater oder ihren Bruder angerufen, um sich von deren Unversehrtheit zu überzeugen. Wahrscheinlich wäre es verrückt, so etwas zu tun – abgesehen davon, dass sie keinerlei Möglichkeit sah, nach draußen zu telefonieren. Hastig sprang sie aus dem Bett und entriegelte die Tür zum Korridor. Draußen täuschte die Beleuchtung Tageslicht vor. Mit einem Mal kam es Lilian unerträglich vor, dass John sie durch halb Europa schleppte, nur um ihr – nach einer weiteren Nacht der Ungewissheit – endlich sein Verhalten zu erklären. Dabei flößte ihr die Umgebung nur noch mehr Angst ein. Aber vielleicht war es ja das, was er wollte. Vielleicht war er gar kein Spezialagent, sondern nur ein reicher perverser Spinner? Mein Gott, worauf hatte sie sich hier nur eingelassen? An den Decken des langen Korridors hingen Kameras, die jede ihrer Bewegungen verfolgten, und am Ende des Gangs sah sie die geschlossene Glastür, von der John behauptet hatte, dass sie sich nur mit einem speziellen Code öffnen ließ. Ihr Blick fiel auf Johns Zimmertür.
War es verrückt, ihn wegen einer abgefahrenen Vision aus den Federn zu holen? Nein, war es nicht, beschloss Lilian. Schließlich war er einer der
Weitere Kostenlose Bücher