Die Teufelssonate
eine kleine, schmale Treppe hinauf, der betörenden Melodie entgegen. Am Ende des Ganges lag ein kleiner Saal. Ein Mann im schwarzen Anzug war über einen Steinway gebeugt. Der Pianist spielte gerade eine besinnliche Passage und schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Er war mager, strahlte aber Kraft aus. Seine langen schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht. Notovich war, als habe er eine frühere Version seiner selbst vor sich.
In der ersten Reihe saßen ein paar Leute. Auch einige Mitarbeiter und Gäste waren nach und nach eingetreten und hörten zu, ganz still, als dürften sie eigentlich nicht hier sein. Notovich hatte keinen Blick für sie. Er blieb reglos stehen und saugte alles in sich auf, jeden Ton und jede Geste des Pianisten, dessen Gesicht noch immer nicht zu sehen war. Dieser bereitete sich nun auf den grandiosen Höhepunkt vor. Seine Hände landeten mit immer größerer Wucht auf den Tasten. Am Ende des Stücks schwollen die Töne an, als ob ein Sturm aufkäme, und der Flügel vibrierte unter den sonderbaren Harmonien. Der allerletzte Akkord klang dann überraschend ruhig, als nähme der Pianist mit Wehmut Abschied von der Welt, die er soeben selbst erschaffen hatte.
Notovich hatte keine Kraft mehr in den Beinen, wagte aber nicht, sich zu setzen, denn er wollte Valdin so nicht unter die Augen treten. Während die zufälligen Zuhörer dankbar applaudierten, lief er so unauffällig wie möglich zum Ausgang. Hinter dem Türpfosten verborgen, versuchte er, das Gesicht des Pianisten zu erspähen. Der war nun aufgestanden und schüttelte den Leuten in der ersten Reihe die Hände. Dabei lachte er selbstsicher und scherzte. Offenbar genoß er all die Aufmerksamkeit. Sein Gesicht kam Notovich nicht bekannt vor, und er dachte, daß ein Gespräch mit Valdin keinerlei Sinn haben würde. Doch als er sich anschickte zu gehen, waren auf einmal zwei Augen auf ihn gerichtet.
»Arrêtez!«
Notovich murmelte ein paar Entschuldigungen und wollte sich einen Weg durch das Grüppchen von Menschen hinter ihm bahnen, aber es war schon zu spät.
»Notovich?«
Valdin kam mit großen Schritten auf ihn zu. Notovich blieb stehen und schaute den Pianisten an.
»Erkennst du mich nicht?«
Der Pianist sprach Niederländisch mit einem starken französischen Akzent. Notovich hatte ihn in der Tat nicht gleich erkannt; der Franzose hatte nicht nur seinen Namen, sondern auch sein Äußeres verändert. Es war die Stimme, dunkel und heiser, die jeden Zweifel beseitigte. Sie versetzte Notovich sofort in eine Studentenkneipe zurück, wo er Abend für Abend verbracht hatte.
Er log, daß er sich nicht an Valdin erinnerte. Das stimmte zum Teil sogar. Um die letzten Monate in Paris hing ein Nebel, durch den er nur mit Mühe hindurchblicken konnte.
»Unglaublich«, antwortete Valdin, nun auf französisch.
Seine Hand fühlte sich geschmeidig und kräftig an und ließ Notovich nicht mehr los. Valdin lächelte, doch seine Augen drückten etwas anderes aus. Notovich vermochte nicht genau zu benennen, was es war: verborgene Verachtung oder Wut. Er fühlte sich unbehaglich. Wie bei einer Vernehmung.
Die Aufmerksamkeit der Leute richtete sich nun auf Notovich. Kann das wahr sein , hörte er sie denken, ist das Notovich, das Genie, Notovich, der Verrückte? Mochten sie doch gaffen, soviel sie wollten; da konnten sie mal sehen, wie tief man sinken kann. Er gab Menschen nicht gern die Hand, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, beschränkte er den Kontaktmoment auf ein Minimum. Aber Valdin hielt ihn fest und fragte, ob Notovich ihn in seine Suite begleiten würde. Nein, auf keinen Fall. Er sei nur zufällig in der Nähe gewesen und habe gleich noch einen anderen Termin, also …
Er bekam seine Hand erst zurück, als er »ja« sagte.
Sie gingen mit einem kleinen Gefolge von Bewunderern nach oben. Die Suite bestand aus zwei geräumigen Zimmern, die beide eine schöne Aussicht über die Stadt boten. Auch hier saßen Leute. Notovich wurde Valdins Agenten vorgestellt (obligatorisches Händeschütteln), dessen Assistenten (wieder die Hand) und Leuten mit irgendwelchen Funktionen bei der Plattenfirma (Hand-Hand-Hand). Alle hatten sichtlich Mühe, ihn nicht anzustarren, denn die Besucher auf den Sofas setzten ihre Gespräche auf eine so forcierte Weise fort, als spielten sie in einem Infomercial. Es wurde hauptsächlich Englisch gesprochen.
»Schade, daß du gestern nicht bei meinem Konzert warst«, sagte Valdin. »Dabei habe ich dir doch das
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