Die Teufelssonate
küßte sie ausgiebig, als ob sie allein im Zimmer wären.
»Maestro, darf ich Sie mit jemandem bekannt machen?« fragte er, ohne die Antwort abzuwarten. »Liebste, das ist der große Notovich.«
Die Frau blickte Notovich neugierig an. Er konnte sie jetzt viel besser sehen als in der Nacht vor dem Concertgebouw. Da hatte sie einen Schal um den Kopf gehabt, doch jetzt sah er, daß ihr langes Haar blond war statt dunkel. Dadurch schien sie nicht älter geworden zu sein, eher jünger. Aber ansonsten war kein Zweifel mehr möglich.
»Du?« flüsterte er. »Bist du es wirklich?«
Sie fragte ihn freundlich, ob sie einander schon einmal begegnet wären. Sie gab ihm die Hand und stellte sich vor. Sie heiße Vivien.
9
W as wußte er eigentlich über Senna? Was hatte er über sie erfahren in den beiden kurzen Jahren, in denen sie zusammen waren? Über sich selbst eine ganze Menge, vielleicht mehr als ihm lieb war. Aber über sie?
Damals, als sie sich am Place Vendôme wiedertrafen, zog er am Ende des Abends in einer Kneipe eine Ansichtskarte aus einem Ständer. Darauf schrieb er seine Adresse und Telefonnummer. Sie nahm sie entgegen und lächelte über die Abbildung auf der Karte. Statt des Eiffelturms prangte dort eine knallgelbe Banane. Sie würde sehen, meinte sie. Er wollte sie zu dem Appartement bringen, wo sie sich zum ersten Mal begegnet waren, aber sie sagte, da wohne sie nicht. Sie verabschiedete sich und lief allein in die Nacht hinaus.
Wochen vergingen, und die Hoffnung, daß er sie wiedersehen würde, verflog. Als er jedoch eines Nachts von einem langen Streifzug über die verlassenen Boulevards heimkehrte, saß sie entspannt zurückgelehnt auf der Treppe in seinem Hauseingang. Sie wedelte triumphierend mit der zerknitterten Ansichtskarte und erklärte, daß sie ihr Buch mit den Byron-Gedichten vermisse. Er ließ sie schnell hinein, fest entschlossen, dieses Mal wenigstens ihre Telefonnummer zu bekommen.
Langsam ging sie durch die ganze Wohnung. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie muffig es roch und daß der Boden mit leeren Tellern, Flaschen und Unterwäsche übersät war. Sie schien es nicht zu bemerken. Sie streichelte über die zahllosen Stapel von CD s und gab beifällige Laute von sich, während sie hier und da eine herauszog. Auch die Bücher über Musiker interessierten sie. Ab und zu stellte sie eine Frage über einen bestimmten Pianisten: ob er noch lebte und ob Notovich ihn einmal live hatte spielen hören. Während dieser noch antwortete, lief sie plötzlich zum Schlafzimmer. Er eilte hinterher, um das Bett rasch in Ordnung zu bringen, aber sie war schneller.
»Ich wollte nur mal schauen, was auf deinem Nachttisch liegt. Damit ich weiß, woran du als letztes denkst, bevor du einschläfst.«
Es war Teil 2 der Gesammelten Briefe von Franz Liszt.
»Du lebst nur für die Kunst. Der Rest ist dir völlig egal, was? Du bist sehr intensiv.«
»Die meisten Leute halten das für verrückt.«
»Ich nicht.«
Sie nahm eine Partitur des zweiten Klavierkonzerts von Chopin vom Stapel und fragte, ob er beim Lesen all dieser Noten Musik im Kopf höre. Er hatte keine Ahnung, wie er das erklären sollte. Schließlich sang er ihr eine Passage vor. Sie war so entzückt, daß sie eine Partitur nach der anderen aus dem Stapel zog, um ihn ein Stück vorsingen zu lassen. Hin und wieder lehnte sie sich an ihn, und er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Sie war geradezu unirdisch schön. Ihre Schönheit durchstrahlte sie, als wäre sie davon besessen.
Bei den Kreisleriana von Schumann fragte sie, woran er denken müsse.
»An nichts.«
»Lügner. Dieses Werk bedeutet dir sehr viel, das sehe ich doch.«
Nach einigem Zögern erzählte er, daß seine Mutter es oft für ihn gespielt habe. Sie habe ihn auf den Schoß genommen und ihm die Fingersätze beigebracht. Seine Liebe zur Musik habe er ihr zu verdanken. Er erzählte auch, wie sie ihn bei ihrer letzten Begegnung geküßt und festgehalten hatte, bis die Krankenschwester kam, um zu sagen, daß die Besuchszeit vorbei sei. Er hatte es noch nie jemandem erzählt.
So gewährte er Senna Zutritt zu seiner Welt, erfuhr aber wenig über ihre. Als sie ging, fragte er, ob er sie anrufen dürfe. Sie lachte ausweichend und küßte ihn auf die Wange. Ihre Haut fühlte sich frisch an. Ihre langen Haare streichelten sein Gesicht.
»Ich bin sehr schlecht in Verabredungen«, sagte sie. »Ich habe überhaupt kein Zeitgefühl. Und ich kann dich doch nicht belästigen, wenn du gerade
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