Die Teufelssonate
T-Shirt nachts oft getragen, darum trug auch er es so gern; es half ihm, in die richtige Stimmung für einen Auftritt zu kommen. Erst als er es weglegen wollte, bemerkte er, daß Blutflecke darauf waren. Er hatte das saubere Oberhemd offenbar vor dem Konzert über das T-Shirt gezogen. Die Polizei hatte es übersehen.
Sie hatten gesagt, daß er seine gesamte Kleidung in die Plastiktüte, die auf dem Bett lag, stecken solle, aber er stopfte das T-Shirt in ein Nachtschränkchen, bevor jemand hereinkam. Er wußte selbst nicht genau, warum.
Zwei Tage lang wurde er von Neuropsychologen untersucht. Zuerst wurde überprüft, ob er Verletzungen am Kopf hatte, dann wurden mehrere CT s gemacht, die ebenfalls nichts ergaben. Jeder Experte zog seine eigenen Schlußfolgerungen. Der eine sprach von einem verdrängten Trauma. Das würde von selbst wieder hochkommen (viel Reden sei die Lösung). Der zweite wies darauf hin, daß Notovich schon öfter Blackouts gehabt habe. Das könne auf verschiedene neurologische Erkrankungen hindeuten, von Parkinson bis zu beginnender Demenz. Experte Nummer drei war wortkarger. Er wolle keine Anschuldigungen äußern, die er nicht mit absoluter Sicherheit beweisen könne. Auf Drängen hin formulierte er nach sorgfältiger Abwägung des Für und Wider so nuanciert wie möglich seine Meinung: Notovich lüge wie gedruckt. Daraufhin wurde ein ausführlicher Persönlichkeitstest durchgeführt. Das Ergebnis war vorhersagbar. Er neige zu Labilität und neurotischem Verhalten. Jugendtrauma. Bindungsprobleme. Und noch ein paar interessante Erkenntnisse, die Notovich schnell wieder vergaß.
Seinem Anwalt reichte es. Die Polizei konnte Notovich nicht länger festhalten, denn es war noch nicht einmal eine Leiche gefunden worden. Also ließ man ihn vorläufig frei. Bevor er ging, zog er das T-Shirt unter seine anderen Sachen.
Die Polizei hatte in seiner Wohnung ziemlich gewütet. Er machte sich nicht einmal die Mühe, alles wieder aufzuräumen. Er klammerte sich an die letzten Reste von Sennas Geruch, die dort hingen: der Tee, den sie trank, das Deo, das noch auf dem Waschbecken stand. Fotos hatte er nicht, die waren für ihn immer nur kraftlose Waffen gegen die Sterblichkeit gewesen. Jetzt hätte er viel für ein einziges Paßbild gegeben.
Die Polizei unternahm inzwischen eine großangelegte Suchaktion nach Sennas Leiche. Sie wurde nicht gefunden. Auch die Blutanalyse erbrachte zur Verwunderung der Ermittler keinen schlüssigen Beweis. Die Proben enthielten nicht genügend DNA , um eindeutig feststellen zu können, ob sie von Senna stammten. Wahrscheinlich hatte er sehr geschwitzt oder Bodylotion auf der Haut gehabt. Niemand hatte mit diesem Ergebnis gerechnet.
Eine halbe Stunde später standen sie wieder vor Notovichs Tür. Es müsse doch irgendwo Kleidung mit Blutflecken liegen. Notovich sagte, seinen Anzug und sein Hemd habe er der Kripo bereits ausgehändigt. Sie wollten die Wohnung noch einmal durchsuchen. Aber Notovich, der durch seinen Anwalt darauf vorbereitet war, weigerte sich, die Polizei hereinzulassen; er habe nun genug mitgearbeitet. Die Stimme des Kriminalbeamten klang heiser vor unterdrückter Abneigung: »Wir kommen heute nachmittag mit einem Durchsuchungsbeschluß wieder. Sie verstehen, daß Sie sich für unsere Ermittlungen zur Verfügung halten müssen. Wenn Sie Paris verlassen, betrachten wir Sie als flüchtig.«
Notovich verstand das nur allzu gut. Er verstand, daß sein Leben vorbei war. Daß sie nie glauben würden, daß er sich an nichts erinnerte. Und daß sein Verlust nur noch größer werden würde, wenn er in dieser Wohnung bliebe, in dieser Stadt, wo er an jeder Straßenecke erwartete, ihr über den Weg zu laufen. Sobald die Polizei weg war, raffte er die allernotwendigsten Sachen zusammen und verstaute sie in einer Tasche. Dann holte er seine Papiere und Bankkarten. Er wußte, daß es dumm war zu fliehen, aber er hielt es hier nicht länger aus.
Er nahm die Metro zum Bahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte nach Amsterdam. Er bezahlte in bar. Als er in den Zug stieg, hielt ihn niemand zurück. Die Fahrt schien endlos zu dauern. Er war ständig darauf gefaßt, daß jemand seinen Paß verlangen würde, und verbarg sich stundenlang hinter seiner Zeitung. Es kam niemand. Als sie die niederländische Grenze passierten, fühlte er sich kaum erleichtert.
In Amsterdam versteckte er sich zunächst eine Zeitlang in einem Billighotel für Jugendliche und ließ sich einen Bart wachsen.
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