Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
aufs Bett!«
»Du bist der Boss.«
Drei Schritte. Rascheln. Husten. Dann sprach Kai wieder ins Handy.
»Hoffentlich hält die Liege mich aus. Die Sprungfedern haben sich schon beschwert.«
»Okay. Jetzt noch mal von vorne. Was siehst du?«
»Also, links ist der Wald. Vermute ich jedenfalls wegen der verschmutzten Scheibe. Und wie ich schon sagte: Geradeaus starre ich auf das Bild an der Wand.«
»Sonst nichts?«
»Rechts ist das Regal und …«
»Nein, nein«, unterbrach ihn Viktor. »Direkt vor dir. Steht da nichts weiter?«
»Nein. Und ich mache dir jetzt einen Vorschlag …« Ein kurzes atmosphärisches Rauschen verschluckte zwei Wörter von Kai.
»Ich … jetzt wieder … Bett auf, okay?«
»Okay.«
»Und jetzt ist Schluss mit den Spielchen. Jetzt sagst du mir, was ich hier in diesem Zimmer erkennen soll.«
»Gut. Gib mir einen Moment.«
Viktor schloss die Augen, um noch stärker zurückzugehen. Zurück nach Sacrow. Im Bruchteil einer Sekunde war er dort: Er schloss die Vordertür auf, zog sich die Schuhe aus und stellte sie in den indischen Schuhschrank in der Diele. Er winkte Isabell zu, die auf der weißen Rolf-Benz-Couch vor dem offenen Kamin lag und die Gala las. Er roch den Duft verbrannter Tannenzweige. Er spürte die Wärme, die ein Haus ausstrahlt, wenn zufriedene Bewohner in ihm leben. Und er hörte die Musik, die aus dem hinteren Zimmer kam. Langsam legte er den Mantel ab und ging zu Josy. Die Musik wurde lauter. Er drückte die Klinke nach unten, und als er die Tür aufmachte, wurde er kurz von dem Licht geblendet, das durch das Fenster strahlte. Und dann sah er sie. Josy saß an ihrem Kinderschminktisch und probierte den neuen orange-gelben Nagellack aus, den sie sich von ihrer besten Freundin geborgt hatte. Die Musik war so laut, dass sie ihn nicht kommen hörte. Der Sender, der gerade lief, hieß …
»Was fehlt?«, unterbrach Kai seine Gedanken. Viktor öffnete die Augen.
MTV.
»Ein Fernseher.«
»Ein Fernseher?«
»Ja, von Sony.«
»Nein. Den gibt’s hier nicht.«
»Und ein Schminktisch daneben mit einem runden Kristallglasspiegel.«
»Nein. Nicht in diesem Zimmer.«
»Das ist es, was fehlt.«
»Ein Kinder-Schminktisch und ein Fernseher? Nimm’s mir nicht übel, Viktor, aber das sieht nicht wie ein herkömmlicher Einbruch aus.«
»Eben. Weil es kein herkömmlicher Einbruch ist.«
Sondern, weil Annas Geschichte mit Josy zu tun hat. Irgendwie. Und ich werde es herausfinden.
»Alles klar. Aber willst du nicht doch die Polizei rufen, Viktor? Immerhin wurde ja etwas gestohlen.«
»Nein. Noch nicht. Aber ich bitte dich jetzt, die anderen Räume zu überprüfen. Es sei denn, es gibt sonst noch etwas, was dir in Josys Zimmer auffällt.«
»Na ja …« Es raschelte wieder im Hörer, und Viktor vermutete, dass Kai sich am Hinterkopf kratzte. Der einzigen Stelle, wo er noch volles Har hatte.
»Was?«
»Das hört sich jetzt vielleicht ganz dumm an …«
»Raus mit der Sprache.«
»Ich denke, in dem Zimmer fehlt mehr als nur ein Möbelstück.«
»Was denn noch?«
»Atmosphäre.« Kai hustete nervös.
»Wie bitte?«
»Ja. Ich hab kein besseres Wort dafür. Aber ich wäre keine gute Spürnase, wenn ich nicht meinem Instinkt folgen würde. Und der sagt mir, dass das nicht das Zimmer einer Zwölfjährigen ist.«
»Erklär das!«, forderte Viktor.
»Ich hab zwar selbst keine Tochter, aber meine Nichte Laura wird nächste Woche dreizehn. Als ich sie das letzte Mal besucht habe, war ihr Zimmer ihr ganz privates Königreich. An der Tür stand nicht ›Freunde willkommen‹, sondern ›No Entry‹.«
»So war Josy nicht. Sie war nicht rebellisch.«
»Ich weiß. Aber bei Laura waren die Wände voll mit Boygroup-Postern. Am Spiegel steckten Karten von Pop-Konzerten, die sie besucht hatte. Neben den Postkarten, die ihr die älteren Jungs aus Mallorca geschickt hatten. Verstehst du, was ich meine?«
Etwas fehlt.
»Nein.«
»Das hier ist nicht das Zimmer eines Teenagers, der aufbricht, um langsam die Welt zu entdecken, Viktor. Hier gibt es keinen Bravo-Starschnitt, sondern hier steht eine Benjamin-Blümchen-Figur im Regal. Und Sesamstraße, Viktor, ich bitte dich. Meine Nichte hat ein Bild von Eminem an der Wand und nicht von Ernie.«
»Wer ist Eminem?«
»Siehst du. Das ist es, was ich meine. Der Typ ist ein Rapper. Du willst nicht wirklich wissen, wovon seine Texte handeln.«
»Ich versteh immer noch nicht, was du mir damit sagen willst.«
»Das hier wirklich etwas
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