Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
liebsten hätte er aufgelegt und wäre nach oben zur Toilette gerannt, um sich zu übergeben. Aber dafür fehlte ihm die Kraft.
»Dr. Larenz?«
Er wusste, dass er etwas sagen musste. Irgendetwas, um den Schein zu wahren, er wäre weiterhin der neutrale Analytiker und nicht der Vater ihrer Visionen. Charlotte war eine Halluzination. Eine chemische Fehlsteuerung in Annas Gehirn.
Er entschied sich für die Standardfloskel aller Psychologen, um sich etwas Zeit zu verschaffen.
»Erzählen Sie weiter.«
Doch das war ein Fehler. Denn Annas nächste Worte waren noch viel unerträglicher.
27. Kapitel
V ergiftet?« Die Stimme des Privatdetektivs hatte selbst für Kais schweren Bass eine unnatürliche Lautstärke angenommen. Viktor hatte ihn im Auto erreicht, während er gerade von Schwanenwerder zurück zu seiner Detektei in Berlin-Mitte fuhr.
»Wie kommt diese Spiegel denn darauf?«
»Ich kapier es auch nicht. Sie hat sich aus den Fakten eine mögliche Geschichte zurechtgebogen.«
»Fakten? Du meinst aus ihren Halluzinationen.«
Viktor hörte eine hektische Autohupe und vermutete, dass Kai mal wieder ohne Freisprechanlage über die Stadtautobahn fuhr.
»Ja. Sie sagte, in dem Bungalow müsse irgendetwas vorgefallen sein. Irgendetwas sei passiert, das eine gravierende Veränderung bei Josy hervorgerufen habe …«
»Charlotte«, korrigierte Kai.
»Ja, mein ich ja. Aber tun wir doch mal für einen Moment so, als wäre tatsächlich die Rede von meiner Tochter. Dann hätte Josephine in dem Wochenendhaus etwas erlebt, das sie schockiert hat. Es war etwas Böses. Das war der Auslöser.«
»Wofür? Dass jemand gekommen ist und sie vergiftet hat?«
»Ja.«
»Und wer, bitteschön?«
»Josy.«
»Wiederhol das!«
Das Rauschen in Viktors Telefon wurde leiser. Offenbar war Kai rechts an den Straßenrand gefahren.
»Josy selbst. Sie selbst hat sich vergiftet. Das ist die Pointe in Annas Geschichte. Das Erlebnis muss so schrecklich gewesen sein, dass sie beschloss, ihrem Leben mit Gift ein Ende zu setzen. Schleichend und in kleinen Dosen. Über Monate hinweg, damit die Ärzte nichts merkten.«
»Moment mal. Was sagst du mir da? Warum denn, um Himmels willen?«
»Du bist zwar kein Psychiater, aber kennst du vielleicht das Münchhausen-Syndrom?«
»Sind das pathologische Lügner?«
»Fast. Ein Münchhausen-Patient ist ein Mensch, der sich selbst Schaden zufügt, damit andere sich mehr um ihn kümmern. Ein Mensch, der gelernt hat, dass er mehr Aufmerksamkeit bekommt, wenn er krank ist.«
»Und der sich deshalb selbst vergiftet? Damit Besuch ans Bett kommt?«
»Der Geschenke und gutes Essen vorbeibringt und den scheinbar Kranken mal wieder so richtig bemitleidet und bemuttert. Genau das.«
»Das ist ja krank.«
»Solche Menschen sind sogar sehr krank. Es ist unglaublich schwierig, sie zu behandeln, weil Münchhausen-Patienten sehr talentierte Schauspieler sind. Sie können glaubhaft die schlimmsten Krankheiten simulieren, und selbst die besten Ärzte und Psychologen fallen darauf herein. Statt die wahre Krankheit, also die psychische Störung zu therapieren, werden solche Patienten meistens auf ihre Scheinsymptome hin behandelt. Oder auf reale Symptome, wenn sie zum Beispiel Unkrautvernichter getrunken haben, um die Geschichte vom chronischen Magengeschwür etwas glaubhafter zu gestalten.«
»Warte mal, du … du glaubst doch selber nicht, dass deine eigene Tochter … Himmel, sie war erst elf, als es mit der Krankheit bei ihr losging!«
»Oder mit der Vergiftung. Ich weiß doch selbst nicht mehr, was ich glauben soll. Ich klammere mich gerade sogar an die Aussagen einer fantasierenden Geistesgestörten. Wie du siehst, ist mir mittlerweile jede Erklärung recht, solange sie etwas Licht in das dunkelste Kapitel meines Lebens bringt. Und ja – es wäre eine mögliche Antwort. Die erste Antwort überhaupt, so grausam sie auch ist.«
»Gut. Vergessen wir mal kurz, dass das alles Wahnsinn ist, was wir hier tun.«
Kai hatte sich von der Standspur wieder in den Verkehr eingefädelt.
»Gesetzt den Fall, diese Anna redet tatsächlich von Josy. Und gesetzt den Fall, sie hat Recht, und deine Tochter hat sich selbst vergiftet. Dann möchte ich jetzt nur noch wissen: Womit? Und jetzt sag mir nicht, eine Zwölfjährige wüsste, welches Mittel man nehmen muss, um sich so zu töten, dass es fast ein Jahr dauert und kein Arzt dahinter kommt.«
»Ich weiß es doch auch nicht. Aber jetzt hör mal. Mir ist es egal, ob Annas
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