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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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vor sieben mußte ich im Labor sein. Und vorher von Zürich nach Aarau fahren, dreißig Kilometer auf der Autobahn. Und abends das gleiche in umgekehrter Richtung. Ich maulte nie deswegen.
    Roman ging ins Badezimmer. Ich hörte die WC-Spülung rauschen, die Dusche prasseln. Ich stellte gerade Butter und Marmelade auf den Tisch, als er fertig angezogen und rasiert in die Küche kam.
    »Riecht gut nach Kaffee!«
    Er küßte mich auf den Mundwinkel, schob die Hand in mein T-Shirt. Ich lächelte ihn an. Die Kaffeemaschine blubberte. Ich goß Roman Kaffee ein. Er trank ihn schwarz und ohne Zucker.
    »Hast du Lust, rauszufahren?« fragte er. »Nach Engelberg?«
    »Wie du willst.«
    Er betrachtete mich, die Brauen leicht gerunzelt.
    »Du siehst müde aus.«
    »Ich habe schlecht geschlafen. Und von Chodonla geträumt.«
    »Von Chodonla?«
    »Ich mache mir Sorgen um sie.«
    »Hast du irgendwelche schlechten Nachrichten von ihr?«
    »Nein. Aber wir sind Zwillinge, Roman.«
    Er schlug einen sachlichen Ton an.
    »Und deswegen glaubst du, daß du über besondere psychische Kräfte verfügst? Über Hellsichtigkeit, zum Beispiel?«
    Eine Gänsehaut überlief mich. Telepathie war vielleicht nicht das richtige Wort. Womöglich gab es dafür kein richtiges Wort. »Ich weiß es nicht«, sagte ich.
    »Du hast zuviel Phantasie.«
    Fast hätte ich gelacht. Phantasie, ausgerechnet das, was mir am meisten fehlte! Ich stand zu dicht an den realen Dingen.
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    »Vielleicht. Es kann aber auch an einer Eigenart meines Charakters liegen.«
    »Du machst es kompliziert«, erwiderte er.
    Ich schlürfte den Kaffee; er war stark, und mir wurde heiß davon.
    Romans Uneinsichtigkeit rief in mir ein melancholisches Empfinden hervor. Roman war dreißig, zwei Jahre jünger als ich. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht, grüngesprenkelte Augen und ein jungenhaft verschmitztes Lächeln, das wie mechanisch seine Lippen hob. Er war auf seine ganz besondere Art anziehend, plauderte gut und gerne. Seine Stimme war sanft, sein französischer Tonfall charmant.
    Er wurde selten zornig, schmollte statt dessen, konnte trotz seiner guten Manieren plötzlich grob und trotz seiner Freundlichkeit plötzlich unausstehlich sein.
    Laura hatte mal gesagt, um einen Mann richtig kennenzulernen, müßte ich mit ihm schlafen. So einfach sah ich das nicht. Man kann sich stöhnend umarmen und sich dabei weder lieben noch richtig verstehen. Ich hatte Roman aus seiner Art zu sprechen ganz gut kennengelernt.
    »Du übertreibst mit deiner Familie«, brach er jetzt das Schweigen.
    »Sie ist nun mal da.«
    »Du hast sie ja dauernd im Kopf. Ich könnte das nicht.«
    »Das verlangt ja auch keiner von dir.«
    Roman stammt aus der Westschweiz, aus einer ursprünglichen französischen Hugenottenfamilie. Die Eltern waren geschieden, der Vater hatte eine Anwaltspraxis in Genf, die Mutter arbeitete in einem Schmuckgeschäft. Aus Liebhaberei, wie Roman betonte. »Elle à toujours eu une passion pour les gemmes.« Die Großeltern bewohnten ein »Seniorenheim«. Jeder lebte in seiner Kiste. Ich war in einer Großfamilie aufgewachsen, hatte dort viel Liebe und Wärme erfahren, aber auch eine starke gegenseitige Abhängigkeit erlebt.
    Eine Anzahl Tibeterinnen, die ich kannte, hatten seit Jahren ihren Beruf und wohnten noch immer bei Amla und Pala.
    »Wie, du wohnst bei deinen Eltern?« wurde ich als Studentin oft gefragt. Man fand es kleinkariert. Ich sagte: »Bei den Eltern setze ich mich an den gedeckten Tisch. Meine Mutter kümmert sich um die Wäsche. Sie macht sogar mein Bett, wenn ich anderes im Kopf habe.«
    »Und was sagt sie, wenn du abends ausgehst?«
    »Nichts. Ich habe einen Hausschlüssel.«
    In der ersten Zeit, als ich mein Studio gemietet hatte, hatte ich 24
    täglich mit der Familie telefoniert und nachts nicht schlafen können, weil mich das Alleinsein bedrückte. Roman meinte, daß ich am Rockzipfel meiner Mutter hing. Leute, die sich bei uns auskennen, würden das niemals sagen. Ich erklärte ihm, daß es bei uns anders lief. Daß die Familie eine mächtige Zelle war, in der wir frei waren.
    Die Eltern wollten, daß wir es im Leben zu etwas brachten; aber auch, daß wir die natürliche Sorglosigkeit, den Zauber der Kindheit lange bewahrten. Umgekehrt lag uns das Wohlergehen der Betagten am Herzen, obwohl uns ihr Anachronismus in akuten Fällen zur Weißglut brachte. Vorwürfe, Ermahnungen und Zähneknirschen gehörten zum Familienalltag. Das alles zählte nicht. Was wirklich

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