Die Tibeterin
zählte, war das Vertrauen, das gemeinsame Vorwärtskommen. Ich versuchte es Roman zu erklären, aber in seinem Gedächtnis blieb nur das Wort »Anachronismus« haften. Er entstammte einer Kultur der Selbstverwirklichung, handelte beflissen eigennützig und erwartete von seinen Mitmenschen das gleiche. Roman arbeitete im Redaktionsteam einer Monatszeitschrift, die von einer Bank finanziert wurde. Er hatte drei Jahre in New York verbracht, berichtete über Wirtschaft und Kultur und betreute eine wöchentliche Sendung im Fernsehen. Das Thema »tibetische Flüchtlinge«
interessierte die Medien; ich wurde als Beispiel für »geglückte Integration« zu einem Interview eingeladen. Das Gespräch vor der surrenden Kamera verlief leicht und flüssig. Romans lockere Routine gefiel mir. Ich erzählte, warum wir Tibet verlassen hatten. Meine Eltern hatten zuerst geglaubt, sich mit den chinesischen Machthabern abfinden zu können. Als die Lage unerträglich wurde, entschlossen sie sich zur Flucht. Eine Zeitlang lebten sie in einem Auffanglager in Nepal. Der ältere Bruder meiner Mutter, Geshe Asur Tseten, war Abt im Kloster Sera. Von den Chinesen grausam gefoltert, war er i960
mit einem Transport des Roten Kreuzes in die Schweiz gekommen.
Acht Jahre später wurde im Dorf Rikon, im Tösstal, das »Tibet Institut« gegründet. Geshe Asur Tseten wurde als Berater zugezogen.
Seiner Fürsprache verdankten wir die Einreisebewilligung. Ich wuchs in Rikon auf und ging dort zur Schule. Nach dem Abitur hatte ich Medizin studiert. Nach zwei Jahren war ich Internistin im Kantonsspital Aarau und bildete mich in Mikrochirurgie weiter.
Nach der Sendung gingen wir in die Studiokantine. Wir sprachen jetzt französisch. Ich erzählte Roman, daß ich mein Praktikum in einer Klinik in Lausanne absolviert hatte. »Aber mit Ihrer Familie sprechen Sie tibetisch?«
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»Meine Mutter spricht nur deutsch, wenn keiner da ist, der für sie übersetzt. Wir dachten, sie lernt es nie. In Wirklichkeit findet sie es bequemer, einfach dazusitzen und buddhahaft zu lächeln. Sie kommt perfekt im Leben zurecht.«
»Hat die Leidensgeschichte ihres Volkes Sie dazu gebracht, Ärztin zu werden?«
»Nein, der Ehrgeiz.«
Er sah mich an und blickte schnell weg. Tibeter umgibt eine Aura der Religiosität und Selbstaufgabe. Weisheit ist ihr Markenzeichen.
Aber ich hegte eine gesunde Abneigung gegen jede Art von Verallgemeinerung. Und Schönfärberei lag mir nicht.
»Ich will den Facharzttitel. Und auf dem Gebiet der Mikrochirurgie sind Frauen im Vorteil.«
»Weil sie sticken und nähen?«
»In Tibet nähen auch die Männer«, entgegnete ich amüsiert. »Nein, Frauen haben einfach die sensibleren Hände. Das ist genetisch bedingt.«
Kleiner als eine Walnuß ist das Herz eines neugeborenen Babys.
Man muß wirklich feinfühlige Hände haben, um ein so winziges und kostbares Gebilde zu flicken, wenn die Natur nicht perfekt gearbeitet hat.
»Wir lernen im Labor, unter dem Mikroskop zu nähen. Die Fäden entsprechen dem Drittel eines Frauenhaars. Man kann Gefäße zusammennähen, die nur einen halben Millimeter messen. Über ein Labor dieser Art verfügen nur wenige Krankenhäuser. Chirurgen kommen aus dem Ausland, um bei uns zu lernen.«
»Woran üben Sie?«
»Zumeist an frischen Schweinedärmen, hauptsächlich Dickdarm aus dem Aarauer Schlachthof. Der Darm des Schweines kommt dem des Menschen am nächsten.«
»Aufschlußreich!« seufzte Roman.
Ich lachte. Er nahm einen Schluck Kaffee.
»Haben Sie schon operiert?«
»In diesem Jahr einige Male. Ich assistiere Professor Kissling.«
»Verstößt unsere westliche Medizin nicht gegen die Auffassung der tibetischen Heilkunst? Haben Sie da niemals Zweifel?«
Ich blickte erst aus dem Fenster, dann auf ihn. Zweifel? Ja natürlich. Und sie kamen zu einer Zeit, da ich eigentlich jeden Grund hatte, zufrieden zu sein. Ich sagte:
»Die lamaistische Heilkunst geht auf zwei Jahrtausende zurück.
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Die Ärzte verwenden Präparate aus Mineralien, Kräutern, Wurzeln und Moos. Sie arbeiten auch mit Massage, Aderlaß, Hitzetherapie und Kauterisation. Dabei suchen sie nicht den schnellen Erfolg, sondern eine milde, langandauernde Wirkung.«
»Ist bei medizinischen Notfallsituationen die westliche Behandlung nicht wirksamer?«
»Sie ist eine Präzisionswaffe. Aber die Heilung der Organe wird wichtiger als die Heilung der Person. Wir forschen in der Subspezialisation und sind oft nicht mehr in der Lage, die
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