Die Tibeterin
Signale weder absurd noch abwegig. Ich empfinde sie als Zeugnisse eines inneren Wissens, das unsere Vernunft übersteigt. Zwischen Zwillingen besteht eine gedankliche Verbindung. Daß sie jahrelang unterbrochen gewesen war, bedeutete nicht, daß sie nicht wieder aufgenommen werden konnte. Träumst du auch von mir, Chodonla? Weißt du noch, wie wir mit unserem kleinen Hund spielten? Ich sah ihn noch deutlich vor mir: ein quirliges, langhaariges Geschöpf, mit Augen wie schwarze Kirschen. Wir nannten ihn Momo, was eigentlich ein gefüllter Knödel ist. Was mochte aus ihm geworden sein? Die Chinesen haben kein Mitgefühl für Tiere. Sie waren besonders grausam zu unseren Haushündchen, weil sie in ihren Augen als Symbole der Müßigkeit galten. Die Soldaten riefen die Hündchen zu sich und spießten sie auf Bajonette auf. Es war leicht, diese Tiere zu töten, sagte Amla, weil sie so zutraulich waren. Du bist Kommunistin, Chodonla; vielleicht lastet auf deiner Seele kein Unbehagen. Vielleicht bist du – auf deine Weise – zufrieden. Daß du anders denkst, empfinde ich nicht als störend, aber nichts hasse ich so sehr wie den Gedanken, du könntest in Not sein. Irgendwann kommt die blitzartige Erkenntnis, die sagt: »Ich bin ein Teil von dir!« Solche Dinge stehen in den Sternen geschrieben, nicht im Anatomiebuch. Ich suchte nach dem Punkt, an welchem die ungeheure Weite, die uns trennte, überwunden werden könnte. Aber die Weite war dunkel wie der Schlaf.
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2. Kapitel
L icht schimmerte durch die Vorhänge. Regungslos lag ich da und betrachtete den hellen Streifen. Sieben Uhr. Das Gewitter war abgezogen. Es würde ein schöner Tag werden. Eine Weile lauschte ich auf ferne Geräusche, sah zu, wie das Zimmer aus der Dämmerung wuchs. Dann warf ich die Decke zurück. Ich duschte, putzte mir die Zähne. Vor dem Spiegel bürstete ich mein Haar und flocht mit ein paar Handgriffen meinen Zopf. Dann trat ich vor den kleinen Hausaltar. In einer Vitrine stand, kaum handtellergroß, eine vergoldete Buddha-Statue. Gleich darunter hing ein Bild Seiner Heiligkeit, des Dalai-Lama, sowie ein schönes Thanka – ein Rollbild, mit Brokat eingerahmt. Mein Vater hatte es mir zum Abitur geschenkt. Es gehörte zu den wenigen Schätzen unserer Familie und stellte die Schutzgottheit Tibets dar: Chenresig – der Herr der Gnade, der seine ewige Wiedergeburt in der Gestalt Seiner Heiligkeit erfuhr. Ich knipste die kleinen elektrischen Lampen auf dem Tragbett an. Im Haus meiner Eltern, in Rikon, brannten noch echte Butterlampen. Amla stellte sie selbst liebevoll her, wobei sie die rußigen Flämmchen gerne in Kauf nahm. Ich bewegte mich lautlos, während ich die sieben Silberschalen mit frischem Opferwasser füllte. Abends wurde das Wasser wieder ausgeschüttet. Unser Wesen soll so klar wie eine Wasserhaut sein, hatte mir Amla als Kind beigebracht. Und sofort stellten sich bei mir Assoziationen ein: Wie ist Wasser? Weich, klar, geschmeidig, angenehm im Mund? Oder gewaltig, reißend, tosend, gefährlich? Unser Blut, unser Körper, jedes Tier, alle Pflanzen der Erde, bestehen vor allem aus Wasser.
Hat Wasser Gedanken, hat Wasser Gefühle? Mein Verstand hatte eine natürliche Neigung, solchen Fragen nachzugehen. Seit ich denken konnte, verspürte ich einen starken Drang nach Wissen in mir. Meine Eltern hatten mich immer unterstützt; sie hatten gewollt, daß ich auf die Höhere Schule kam. Sie konnten mir kein Geld für das Studium geben, aber nach dem Abitur bekam ich ein Stipendium.
Ich legte die Handflächen aneinander und sprach das erste und einfachste Gebet. »Expressverfahren« nannte es Tenzin, mit Nachsicht und Ironie. Bei meinen Eltern war das allmorgendliche Herbeirufen von Segnungen lang und ausführlich. Aber ich sah das Beten nicht als Routine an; wenn ich aus irgendeinem Grund nicht dazu kam, fühlte ich mich – so trivial es klingt – wie jemand, der 22
ohne die Zähne zu putzen aus dem Haus rennt. Das Morgengebet war ein Ritus des Wohlbefindens, weder ungewöhnlich noch exzentrisch, sondern in der Mitte des Herzens geboren. Ich liebte die friedvolle Stille, oder auch die vorherbestimmte, mit der jeder Tag begann. Vor dem Altar war diese Stille zugegen. Etwas war da, das mich in einer Umarmung hielt und froh machte; etwas, das es nicht nötig hatte zu atmen.
Ich schaltete die Kaffeemaschine ein, schob Weißbrot in den Toaster, als Roman erwachte.
»Warum bist du schon auf?«
»Gewohnheitssache.«
Täglich um zwanzig
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