Die Tibeterin
Geschrei, daß man mich beachtete. Ein lachender Diener hob mich auf seine Schultern. Endlich sah ich, wohin alle schauten, und vor meinen Augen tat sich eine Märchenwelt auf. Ölflämmchen brannten auf Tragaltären, und die Nacht schien von feurigen Pünktchen übersät. Das Flackerlicht fiel auf riesige Bildwerke. Es war, als ob jede Figur, jedes Muster, einen eigenen schwachen Schimmer ausstrahlte. Es verschlug mir die Sprache. Hier leuchteten die Blumen und Früchte, die Blätter und Dolden aller Erd- und Himmelsgärten. Wunderbar abgestimmt in den Farben, traten Hirsche und Rehe, Löwen und Tiger, Affen und Elefanten aus mandelgrünen Wäldern hervor. Ein Pfau schlug sein Rad, ein Pferd flog in die Wolken. Hier wirbelte ein Dämon, die Zähne gebleckt zu drohendem Fauchen, dort tanzte eine Fee. Eine vierarmige Gottheit lächelte auf dem Lotusthron, die Sonne färbte die Schneeberge rosa, und Buddha, golden gekrönt, schwebte im fünffarbigen Lichtkreis über smaragdenen Gewässern. Ich war vor Staunen ganz benommen.
In meiner Einfalt setzte ich alles mit meinem Vater in Verbindung.
Ich brauchte bloß an ihn zu denken, um tiefe Freude zu verspüren, Freude, aber auch Beklemmung. Kinder sind Zauberer und sehen in die Zukunft, auch wenn sie die Zeichen nicht deuten.
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Die Utopisten der heutigen Tage malen Engel an die Wände, die nicht ins Paradies führen. Die Gottlosen verlachen die Gläubigen: Religion ist Opium für das Volk, der Spruch ging um die Welt. Im Zeitalter der Partei ging die Menschlichkeit verloren. Damals jedoch, bevor uns die Chinesen vorwarfen, auf den Knien zu rutschen statt zu denken, standen am Barkor die Häuser der Beamten und Kaufleute, wuchtige Steingebäude, mit eisenbeschlagenen Portalen und Baikonen, von massiven Pfeilern gestützt. In dieser Nacht waren die Fenster im Erdgeschoß mit Kissen und Teppichen ausgelegt.
Unter purpurnen Baldachinen lehnten schöne Frauen, der Kälte wegen in Pelze gehüllt. Ihr Haar war zu einem Zweispitz hochgesteckt, mit Bernsteinkugeln und Jadespangen geschmückt.
Hinter den Frauen drängten sich Dienerinnen, Kinder in den Armen.
Andere Diener hielten Schaulustige von den Fenstern fern. Alle warteten auf die Prozession Seiner Heiligkeit, die in Kürze hier vorbeikommen würde. Es war strengstens verboten, sich auf den Baikonen der oberen Geschosse aufzuhalten, denn kein Mensch hatte das Recht, in Gegenwart Seiner Heiligkeit höher als er selbst zu stehen oder zu sitzen. Beide Straßenseiten waren mit weißen und gelben Kreidelinien bezeichnet, und alle dreißig Meter stand ein Weihrauchgefäß. Reihen von Mönchen säumten die Straße, und die gefürchteten
Dopdops,
die Mönchspolizisten, teilten aufs
Geradewohl Stockschläge aus. Ihre Gewänder, an den Schultern mit Leder gefüttert, ließen sie noch gewaltiger erscheinen. Wenn sie drohend mit den Stöcken auf den Boden schlugen, stoben die Menschen erschrocken auseinander.
Plötzlich klangen von weither Trompetenstöße. Eine Militärkapelle hatte zu spielen begonnen. Die Männer, in Wickelgamaschen und Tropenhelmen nach britischem Vorbild, nahmen zu beiden Seiten der Straße Aufstellung. Ihre befehlshabenden Offiziere kamen mir kriegerisch und schneidig vor. Ich bewunderte sie sehr und wünschte mir die gleiche Uniform. Doch als die Soldaten ihre Waffen senkten, legte sich ehrfürchtiges Schweigen über die Menge. Einzig das Knirschen der Schritte im Schnee, die dünnen Stimmen der Kleinkinder und dann und wann ein Husten waren zu hören. Im Gedränge, wo wir Platz gefunden hatten, hob mich meine Mutter auf ihre Arme. Das nun erklingende Geräusch jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken: das intensive, magische Brummen der Muschelhörner dröhnte über die Stadt. Und wie ein Echo stieg aus der Finsternis ein schwingendes Dröhnen. Die heiligen Da-Ma-260
Trommeln schlugen den ersten Ton: Die Prozession setzte sich in Bewegung! Am Ende der Straße lösten sich Gestalten aus der Nacht.
Zuerst erschienen Mönche mit erhobenen Kienfackeln. Schwaden dunstigen Weihrauchs stiegen auf. Die Mitglieder des Mönchsrats, in weiten Umhängen mit gelben Hauben, hochgeschwungen wie Hahnenkämme, trugen die Prozessionsbanner der verschiedenen Bruderschaften. Dann folgten sechs Ponys, mit Seide und Satin geschmückt, jedes trug zwei Da-Ma-Trommeln, die von zwei Männern in wechselndem Rhythmus geschlagen wurden. Flöten setzten ein. Zum erstenmal vernahm ich die Klänge der Suna, voller Feierlichkeit
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