Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
sich; doch kein Ton kam über seine Lippen. Er neigte nur den Kopf, deutete einen Gruß an, der sowohl mir als auch meiner Mutter galt, bevor ihn zwei weitausgreifende Schritte wieder auf die Höhe der Sänfte brachten. Er schwang die Peitsche hoch über seinen Kopf – es mochte als Gruß gelten, als stolze Huldigung.
    Und dann war es vorbei. Ich spürte eine Art heftiges Zittern; nach einer Weile merkte ich, daß dieses Beben aus der Brust meiner Mutter kam. Ihr Atem ging tief und keuchend. Sie preßte mich an sich; es war ihr krampfhaftes, unterdrücktes Schluchzen, das mich schüttelte. Dann erklang ein großer Seufzer, wie ihn Kranke manchmal hören lassen; ihre Augen schlossen sich, während Tränen über ihre Wangen liefen. Leise, kaum hörbar, flüsterte sie an meiner Wange:
    »Du hast ihn also gesehen. Er brachte sein Opfer, Atan. Und jetzt bewacht er den Edelstein.«
    263

31. Kapitel

    »M eine Erinnerung an Lhasa«, fuhr Atan fort, »steht ganz im Banne dieser ersten Eindrücke. Die Bilder sind in mir, leuchtend und wunderbar. Ich erlebte, wie die Veränderung unser Volk erfaßte, wie das Lachen und die Lieder und die Gebete verstummten. Für diese Dinge gibt es keine Wiederkehr. Die Götter schlafen. Eines Tages, in tausend Jahren vielleicht, werden sie mit staunenden Augen auf die Erde blicken und nur Schatten auf verbrannten Steinen finden.
    Unsere Religion verbietet das Töten jeder Kreatur, Mensch oder Tier. Wir sind – würde ich sagen – nicht zeitgemäß. Es gibt Völker, die dem Leben nicht soviel Wert beimessen. Das hat auch praktische Seiten. Wer die Welt verändern will, muß Blut vergießen, anders geht es nicht. Und so lernte auch ich, am Rande meines Gewissens zu leben.
    Mein Großvater Djigme war ein umgänglicher Mann, mit blitzenden Augen und humorvollem Mund. Wenn er Gerstenbier trank, wurde er unsicher auf den Beinen und erzählte Geschichten, die meine Großmutter zum Lachen brachten. Sie hatte ein mädchenhaftes Lachen, fröhlich und glockenklar. Sie konnte von ganzem Herzen über Dinge lachen, die andere nur mäßig oder überhaupt nicht komisch fanden. Djigme gefiel das sehr. Nachdem Uma an Typhus erkrankt und gestorben war, war er nie mehr derselbe. Nun trank er nicht mehr, um sich zu freuen, sondern um zu vergessen; er schämte sich auch nicht seiner Tränen. Doch wenn Djigme im Rat seiner Stimme erhob, wurde ihm immer noch zugehört. Keiner verspottete ihn, weil er trauerte. Jeder ehrte seinen Schmerz.
    In den Wintermonaten ging ich in Lithang zur Schule. Unser Lehrer, Kelsang Jampa, war ein älterer Mann von ungefähr fünfundsechzig Jahren, hager, kleingewachsen und mit weißen Haarstoppeln. Er war der lustigste Mann, den ich jemals gesehen hatte, mit dem schelmischen Gesicht eines Gnoms. Er besaß einen schier unerschöpflichen Schatz alter Spottverse, absonderlicher Sagen und nicht immer stubenreiner Geschichten von Mönchen und Nonnen. Er konnte dabei seine Stimme verstellen wie ein Schauspieler und die verschiedensten Rollen durch Gestik und Mienenspiel darstellen. Da ich ihn mochte, lernte ich schnell, ohne die großen Gedanken zu begreifen, die sich in seinen vergnügten 264
    Anekdoten verbargen. In den Jahren, die seitdem verflossen sind, erkannte ich nach und nach die goldenen Wahrheiten dieses großartigen alten Lehrers. Er benutzte die Magie der Worte ebenso wie meine Mutter die Magie der Gesänge. Nur klare Köpfe können der Dunkelheit trotzen, die Feinde verhöhnen und für die Freiheit streiten. Das war es, was ich bei ihm lernte.
    Zu jener Zeit gehörten uns zweihundert Pferde, ein paar tausend Schafe und achthundert Yaks. Die Yaks waren die Grundlage des tibetischen Lebens. Sie dienten als Packtiere und – wenn sie keine Hörner hatten – als Reittiere für Frauen und Kinder. Sie lieferten die tägliche Milch. Ihr Fleisch, getrocknet und mit Salz und rotem Pfeffer gewürzt, hielt sich ein Jahr lang. Aus den Häuten der alten Büffel fertigte man Fellboote, die jeder Strömung trotzten, Zeltdecken und Umhänge für den Winter, in früheren Zeiten auch Schilder, die Pfeile und sogar eine wuchtig gestoßene Lanze abhielten. Die feinere Haut der Kuh lieferte Leder für Kleider und Stiefel. Aus der Wolle wurden feste, wasserdichte Stoffe gewonnen, unsere Jurten waren aus Yakwolle, die sowohl vor Hitze, als auch vor Kälte schützte. Fellriemen dienten zum Binden und Knüpfen, die Sehnen als Fäden. Aus den Knochen machte man Werkzeuge und Nadeln. Die Hörner

Weitere Kostenlose Bücher