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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sich die Hänge hinunter, Terrasse über Terrasse, leuchtend wie pures Gold. In Ehrfurcht beugte ich den Kopf, faltete meine erstarrten Hände. Ich betete die heiligen Worte: »O mani padme hum«, und meine Augen wurden feucht.
    Wir ritten an dem Berg Tschagpori vorbei, mit seiner berühmten Medizinschule, von der heute bloß Ruinen übrig sind, aus denen ein Fernsehturm ragt.
    Bald kam, an einem anderen Hang, die Klosterstadt Drepung in Sicht, mit ihren Dächern aus vergoldetem Kupfer und rauchgeschwärztem Gebälk, mit ihren zinnenbewehrten Wachtürmen, ihren scharfen Schatten. Ein Bollwerk aus engen Gäßchen, bemalten Gebetsmauern, kleinen Ghompas – Heiligtümer
    – Hinterhöfen und sich herabwindenden Treppen. In den Tempeln waren viele tausend Mönche beim Gebet. Die ganze Klosterfestung 257
    summte wie eine Bienenwabe.
    »Amla, Amla!« rief ich aufgeregt. »Werde ich bald meinen Vater sehen?«
    Sie lächelte mir zu. In ihren Augen schimmerte es feucht.
    »Ja, das wirst du.«
    »Wird er auch mich sehen?«
    »Still, Atan, still! Du darfst nicht vergessen, artig zu sein. Ja, er wird dich sehen. Heute ist ein großer Tag.«
    Der Palast, glühend im Abendlicht, dehnte sich mit Türmen und Pfeilern, mit Hallen und Vorbauten über verschneite Felsen. Von Stufe zur Stufe wuchs er empor. Ja wahrhaftig, erdgeborene Giganten mußten die Festung errichtet haben. Wer sonst hätte diese Mauern, diese Pfeiler, diese Sockel erschaffen können? Man sah, wie sie aus den Felsen wuchsen, von der untersten Sprosse bis zu den funkelnden Türmen, eine ständige Bewegung aus Stein. Das Auge glitt an den Mauern empor, von einer vogelumflogenen Terrasse zur anderen, noch höher hinauf bis zu den Säulen mit den Goldkapitellen, über denen die Dächer kronengleich funkelten. In diesem Palast tat mein Vater seinen Dienst.
    Die Stadt selbst mit ihren Tempeln in der Mitte duckte sich in eine Bodensenkung. Und doch atmete sie Feierlichkeit aus, weil sich alle Umrisse und Formen gleichsam himmelwärts fortsetzten. Als ob die Häuser selbst sich danach sehnten, emporzuschweben zu den Göttern, die in den Bergen lebten als Gefährten der Sonne, der Sterne und der Winde. Unterhalb der Ringmauer verlief der Lingkor, der äußere Pilgerweg. Wir gelangten mit Mühe durch ein gewaltiges Tor. Menschen verstopften alle Straßen, ihr gefrorener Atem schwebte weiß über den dunklen Köpfen. Daß es in Lhasas Armut, Schmutz und Elend gab, sah ich nicht. Ich bewegte mich in einer Welt der Götter und Heroen. Mein kindlicher Sinn war erfüllt von einer Sehnsucht nach Klarheit und schönen Dingen. Noch heute glaube ich, daß dieser erste Eindruck mein späteres Leben geprägt und mich zu dem gemacht, was ich geworden bin: ein Mensch, der die Vergangenheit wie einen Rausch empfindet. Ich bin ein Mann, der das Paradies als Illusion im Abendlicht sah, und sich nun vor Sehnsucht nach einem Trugbild verzehrt.
    In jener Nacht also war Lhasa in Licht getaucht. Kerzen, Fackeln und kleine Öllampen beleuchteten Gebetsstätten und Statuen, Häuser, Höfe und Gassen, in denen sich filigrane Schatten bewegten.
    Der Vollmond überzog die Berge mit Silber. Meine müde Stute trug 258
    mich durch die Menge – ein Diener führte sie am Zügel, was ich mir sonst nicht hätte gefallen lassen. Jetzt merkte ich es kaum.
    Das Surren der Gebetsmühlen, das Murmeln unzähliger Stimmen mischte sich in den schweren Duft nach Weihrauch, Ölgebäck und warmem Gerstenbier. Kinder in bunten Festkleidern drehten sich wie Kreisel. Der Widerschein der flackernden Feuer ließ nußbraune Gesichter wie Kupfer und Gold glänzen, verwandelte Lumpen in edles Brokat und schmierige Schafsfelle in kostbare Mäntel.
    Tausende von Räucherstäbchen brannten in jedem Heiligtum. Die Butterlampen schienen in der Luft zu hängen; sie flackerten hin und her oder brannten still und stetig. Alle Säulen waren mit kostbarem Brokat geschmückt. Im Dämmerlicht kauerten die Mönche, schlugen kleine Zimbeln und sangen. Wir näherten uns dem Barkhor, dem inneren Pilgerpfad, der den Jokhang-Tempel umgab. Hier gab meine Mutter den Knechten die Anweisung, die Reittiere fortzuführen. Sie behielt nur die Diener bei sich. Wir gingen zu Fuß, geschoben von der Menge. Alle starrten zu etwas hin, das wir noch nicht sehen konnten. Ein rosafarbenes Leuchten, das gelegentlich wuchs oder abnahm, in Safrangelb und zurück in Rosa umschlug. Auf dem Vorplatz staute sich eine Menschenmauer; ich stolperte, forderte mit

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