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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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wurden zu Wasserbehältern, Tintenfässer und Schnupftabakdosen verarbeitet. Fast alle Dinge, die wir brauchten, stammten von den Yaks. Unsere Hirten stellten Butter, Käse und Borax her; sie verpackten die Butter in feuchte Häute, damit sie sich lange hielt. Die getrockneten Käselaiber wurden auf einer Schnur gefädelt zusammengebunden und auf dem Markt in Lithang angeboten. Von dem Verdienst kaufte meine Mutter Salz, das die Karawanen brachten, Seidenstoffe, Tee, Streichhölzer und Seife und manchmal auch Gold- oder Silbermünzen, Korallen und Bernstein, um ihr Geld gut anzulegen.
    Wir zählten regelmäßig unsere Yaks; das Zeichen des Besitzers wurde ihnen nicht in den Schenkel, sondern in die Hörner gebrannt, was dem Tier weniger Schmerzen bereitet. Eines Tages, im Spätsommer, ritt ich mit Shelo auf die Weide. Es war ein schwüler, dunstiger Tag. Die Tiere bewegten sich träge. Plötzlich zog ein Gewitter auf. Das Gelb der Hügel verwandelte sich in tiefes Violett unter dicken, schwarzen Wolken. Ein heftiger Wind bewegte die Gräser. Wir ritten in schnellem Trab heimwärts, doch das Unwetter kam uns zuvor. Eine Kette von Blitzen zuckte auf, manche fielen ganz nahe; der Donner rollte ununterbrochen. Bald fielen die ersten 265
    Tropfen; dann fegte ein gewaltiges Rauschen heran. Regen, hart wie Blei, peitschte unsere Schultern und Rücken. Der Wind heulte, auf unseren Ohren lag ein Druck, der uns schwindlig machte. Ehe ein Donnerschlag verhallt war, schmetterte ein neuer dazwischen. Wir ritten durch die graue Regenwand, durch das Feuer der Blitze, das jedesmal die Pferde aufschreckte und ausbrechen ließ. Als für einen kurzen Augenblick der Donner schwieg, vernahmen wir in der Nähe ein lautes, schmerzvolles Muhen. Wir hielten die Pferde an und lauschten. Eines unserer Tiere mußte in Not sein. Plötzlich streckte Shelo den Arm aus. »Da!« Schnell ritten wir in die Richtung, aus der das Brüllen kam, und entdeckten unter einem Baum eine dunkle Masse, die sich bewegte. Der Blitz hatte einen gewaltigen Ast von der Krone geschlagen. Unter einem Gewirr von Laub und verbrannten Zweigen lag ein Yak in einer großen Blutlache. Eines seiner Hörner war abgebrochen. Wir sahen sofort, daß er nicht zu unserer Herde gehörte.
    »Ein Drongl « rief Shelo.
    Die Drongs sind wilde Yaks, die im Gebirge leben. Diese Tiere sind mächtiger und größer als zahme Yaks. Zum Pflügen und Lastentragen eignen sie sich nicht. Es kam vor, daß wir ihnen Kühe überließen, damit wir im nächsten Frühjahr junge, kräftige Dzos bekamen. Ausgewachsene Drongs können fast zwei Meter bis zum Widerrist erreichen. Sie sind prächtig anzusehen, mit großen, geheimnisvollen Köpfen. Ihre Hörner, auswärts gebogen, schimmern lang und scharf wie Säbel. Ihr dunkelbraunes, ins Schwarze übergehende Fell fällt mähnengleich über Rückgrat und Flanken. Sie beherrschten schon die Hochtäler, als die Menschen noch in Grotten ihre ersten Pfeile schnitzten.
    Das verunglückte Tier, eine Kuh, warf ihren schwerfälligen Körper hin und her, krümmte den Hals und reckte den Kopf, verzweifelt bemüht, ihre Last abzuschütteln. »Armes Tier!« sagte ich zu ihr.
    »Was machen wir jetzt mit dir?«
    »Bleib ihr vom Leibe! « warnte mich Shelo.
    Sie selbst näherte sich furchtlos der schmerzgepeinigten Kuh, packte den schweren Ast und versuchte ihn wegzuziehen. Es gelang ihr nicht. Die Kuh zitterte zunehmend stärker, brüllte und stöhnte.
    Offenbar hatte ihr der Ast das Rückgrat gebrochen. Plötzlich schüttelte sie ein heftiges Zucken, die Augen traten ihr fast aus den Höhlen. Rasselnder Atem drang aus den geweiteten Nüstern. Die Beine streckten sich; ein tiefer Seufzer hob die verschwitzten 266
    Flanken. Dann fiel der schwere Körper zurück und lag still. Im weißen Flackerlicht trat ich zaghaft näher.
    »Ist sie tot?«
    Shelo nickte atemlos, wischte sich das nasse Haar aus dem Gesicht.
    Da hörten wir ein schwaches Blöken. Unter den knackenden Zweigen bewegte sich etwas, ein lockiges, nasser Kopf tauchte aus dem Blattwerk auf. Bevor sie starb, hatte die Kuh ein Kälbchen geworfen! Und – welch ein Wunder: Das kleine Tier war weiß, mit gelblichen Flecken hier und da. Weiße Yaks sind äußerst selten.
    Deswegen sagt man, daß sie Glück bringen. Wir befreiten das Kälbchen aus dem Gewirr der Zweige, hoben es mit vereinten Kräften hoch. Es war nicht viel schwerer als ein großer Hund, klebrig vom Blut seiner Mutter. Zwar konnten wir das Tier

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