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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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bewaffnete Diener und zwei Pferdeknechte. Ein Maultier trug unser Gepäck. In Lhasa würden wir in einem Rasthaus übernachten, das einem Verwandten gehörte.
    Losar, das Neujahrsfest, ist mit dem Aufstieg des neuen Mondes verbunden, und begann in diesem Jahr im Februar. Zu dem Anlaß fanden sich Tausende von Pilgern in der Hauptstadt ein. Das Neue 255
    Jahr erwachte mit Lärm und Gelächter, mit Zeremonien, Empfängen, Festessen, Umzügen und Feuerwerken. Es war wichtig, daß man sich vergnügte, seine besten Kleider trug, als Omen für Wohlstand und Glück. Nach drei ausgelassenen Tagen wurde die Stimmung besinnlich. Mönlam Tschenmo, das Große Gebet, feierte Buddhas Sieg über die Dämonen, die ihn bei seiner Meditation in Versuchung geführt hatten.
    Wir reisten ohne Zwischenfall über die Päße. Meine Gedanken flogen, die Ungeduld machte mich toll. Ich wollte vorwärts stürmen wie der Blitz, wie der Adler, wie der reißende Wildbach. Reiten, Tag und Nacht, um unser Ziel noch früher zu erreichen! »Zu einer solchen Hast ist kein Anlaß«, meinte Shelo lachend, »denk doch an die armen Pferde!«
    Es kam alles ganz anders. Der alte Winterteufel mit den bleiernen Eingeweiden spielte uns einen bösen Streich. Von einer Stunde zur anderen setzte Schneefall ein, dicht und stetig fielen die Flocken.
    Wir mußten die Reise unterbrechen, tagelang in einem verschneiten Dorf warten. Welch eine Enttäuschung! Die Bauern klagten: »Das ist der tiefste Schnee, den wir seit Jahren hatten.« Endlich zog der Winterteufel seinen Bauch wieder ein, hinterließ einen wütenden kleinen Jungen und einen Himmel, der blank war wie Türkis. Wir ritten weiter; aber die weiße Decke lag hüfttief auf den Pfaden. Es war ein Wunder, daß wir es schafften und Lhasa am Tag des Lichterfestes erreichten.
    Es war die Stunde des Vogels, die Schatten wurden länger, der Himmel, seit Tagesanbruch klar, war jetzt von einem grellen Blau, und die dahineilenden Wolken ließen ihn noch höher und blauer leuchten. Auf der Asphaltstraße wanderten Tausende von Menschen.
    Die Bewohner der umliegenden Landbezirke kamen zu Fuß oder zu Pferd, mit dem Wagen oder von Sänften getragen. Die einen drehten ihre Gebetsmühlen, andere ließen Gebetsschnüre aus Knochenkügelchen oder Halbedelsteinen durch die erstarrten Finger gleiten. Manche warfen sich flach zu Boden, erhoben sich wieder und wiederholten diese Gebetsübung von neuem. Im Gedränge kamen wir nur schrittweise vorwärts. Yaks, mit Gepäck beladen, Maulesel, Reiter und betende Pilger, Lastwagen und Jeeps verstopften die Straße. Ich war mit den natürlichen Geräuschen der Steppe aufgewachsen. Der ungewohnte Lärm verwirrte mich: Hupen, Rufe, Räderknarren mischten sich in das Geräusch der Motoren, die im Schneematsch beschleunigt oder gebremst wurden.
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    Am Straßenrand waren Zelte aufgeschlagen. Vor kleinen Öfen kauerten Bauern, brühten Tee auf und verkauften getrocknetes Yakfleisch, in Öl gebackene Krapfen und alle möglichen Zuckerwaren. Die ganze Straße war mit Reliquienschreinen gesäumt.
    An Stangen, im scharfen Wind gebogen, flatterten Tausende von neuen Gebetsflaggen in den Himmelsfarben blau und weiß. Vieles, was ich sah, ist mir entfallen, aber auch heute, nach all diesen Jahren, empfinde ich noch dasselbe Gefühl des Schwindels, des SichEröffnens einer anderen Welt, die der erste Anblick des Potalas in mir erweckte. Lange Zeit waren nur verschneite Höhenrücken zu sehen. Ganz plötzlich senkte sich die Straße, die Hügel glitten zurück, gaben den Blick frei auf einen Kranz weißer Berge. Und in ihrer Mitte, wie ein Riesenjuwel in einem Schrein, erhob sich ein Bauwerk im goldenen Strahlenkranz. Was konnte das sein? Eine Luftspiegelung? Eine Fieberphantasie? Ich schloß die Augen vor Angst, ein Wimpernzucken könnte das Bild verscheuchen. Blinzelnd öffnete ich sie wieder… Nein, es war da! In meiner Vorstellung war der Potala nur eine Burg gewesen, wie jeder Fürst sie in Kham bewohnt. Doch alle Schneegipfel der Welt schienen sich über dieses Bauwerk zu neigen. Die ganze Gegend roch nach Segen und Göttern.
    Bis heute kenne ich keinen anderen Ort, der einen solchen Eindruck hervorzubringen vermag. So groß, dachte ich, so gewaltig ist die Macht meines Vaters! Er wohnte im Potala – im Winterpalast seiner Heiligkeit, schwebend, wie der Volksmund sagt, »über den fünffarbigen Wolken des Paradieses«. Von Schneeschleiern umweht, krönte das Bauwerk die Stadt, erstreckte

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