Die Tibeterin
gelernt, Visionen zu achten. Das Rad des Schicksals drehte sich. Ihre Bestimmung war schon besiegelt.
»Ich will meinen Sohn sehen«, stieß er hervor. »Und wenn es auch nur ein einziges Mal ist.«
»Du wirst ihn sehen«, sagte die junge Frau. »Ich verspreche es dir.
Eine Ngolok hält stets ihr Wort.«
Ihre Hände streichelten ihn sanft, ihr warmer Atem strich über seine Wange. Sie flüsterte.
»Ich werde dich immer lieben.«
Einige letzte Stunden voll träumerisch-schöner Ruhe blieben ihnen, eine jener Nächte, die einem Mann mehr wert sind als alle anderen im Leben. Dann wurde es Tag. Der Weg war gewählt; Tilens Fuß betrat ihn schon. In ein paar Stunden würde er die Jurten seiner Kindheit für immer verlassen; er würde sein langes Haar scheren, auf das er so stolz war, und das Mönchsgewand tragen. Der Schritt war nicht rückgängig zu machen. Hatte er erst sein Gelübde abgelegt, würde er nach neuen Gesetzen leben: ein Mönch werden, im Wesen und Sein. Shelo jedoch war es, als werde ihre Seele zerstampft wie das Salz im Mörser. Doch ihre Visionen hatten ihren Willen gestärkt.
So jung sie war, hatte sie bereits erfahren, wie unberechenbar die Vorsehung sein kann, und sich damit abgefunden. Tiefe Ruhe kam über sie, es war ein Zustand des Friedens und des Kräftesammelns.
Sie dachte an das Kind, fühlte es in ihrem Blut wachsen, bis es voll ausgebildet war. Und in einer Sommernacht, als Sternschnuppen in großer Dichte herabstürzten, fühlte sie die ersten Wehen. Sie lag unter der Öffnung der Jurte, nahm trotz ihrer Schmerzen die Schönheit dieser Nacht wahr. Sie packte die Firststange und hielt sich daran fest, und der Himmel schien mit ihr und ihrem Kind im Mittelpunkt langsam zu kreisen. Sie flüsterte Tilens Namen wie eine Beschwörung, und als ihr Herz vor Sehnsucht und Qual zu 253
zerspringen drohte, fiel das Kind wunderbar schnell aus ihrem Leib auf das weiche Schafsfell zwischen ihren Beinen. Uma durchschnitt die Nabelschnur mit einem scharfen Stein, hob das Baby auf und wusch es; sie sagte mit wehmütiger, aber glücklicher Stimme, daß es schwerer sei als ihre eigenen Kinder. Shelo drückte es an ihre Brust und steckte ihre Finger in seine Hand, um den Griff zu spüren; die winzigen Finger schlossen sich fest, und es schrie aus kräftigen Lungen. Shelo schlief eine Weile, während Uma Wacholderzweige verbrannte und die Jurte in Ordnung brachte. Bei Tagesanbruch nahm Shelo ihren Sohn in die Arme und stillte ihn zum ersten Mal.
Sie nannte ihn Atan. In der alten Sprache der Ngolok bedeutet dieser Name »der Fürst«.
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30. Kapitel
I ch wuchs heran; mein Leben spielte sich in einer Beständigkeit ab, die das Wesen eines Kindes festigt. Der Zauber der Kindheit ist eine mächtige Magie. Wenn uns später das Leben zu Selbstentfremdung, Haß und Mord führt, so bleibt diese Erinnerung als Trost. Die Unschuld der ersten Kinderjahre wandert mit uns, durch Granatfeuer und Trümmerhaufen, und schenkt uns ein Versprechen der Wiedergeburt.
Als kleiner Junge war ich schnellfüßig, neugierig und jähzornig.
Die religiöse Erziehung dämpfte meinen heftigen Charakter, erweckte gleichzeitig ein unbegrenztes Gefühl des Vertrauens.
Khampakinder sind nie allein. Sie sind zu jeder Zeit umgeben von Großeltern, Onkeln, Vettern, Dienern, die mit den Kleinen schmusen, ihnen vorsingen, Geschichten erzählen. Nie wurde ich angeschrien, nie hörte ich ein hartes Wort. Jeder beugte sich lachend meinen Launen, so daß ich bald schrecklich verzogen war.
Meinen Vater hatte ich nie gekannt, doch jeder nannte seinen Namen mit Ehrfurcht. Mit den Jahren wuchs seine Bedeutung. Man sprach von seiner Kraft und Weisheit; davon, wie gut er reiten konnte, wie freundlich zu allen Menschen er war und wie mitfühlend zu den Tieren. In meiner Vorstellung sah ich ihn im Potala, erfüllt von seiner großen Aufgabe, umgeben von Frömmigkeit und Prunk, hochgeschätzt wegen seiner Treue und seiner Stärke. Und dennoch in Gedanken bei seinem kleinen Sohn. Mein Herz klammerte sich fest an die Überzeugung, daß mein Vater ein Held war; und indem ich so dachte, wuchs in mir das Bedürfnis, unbesiegbar wie er zu werden.
Ich war fünf Jahre alt, als meine Mutter mir mitteilte, daß wir zum Neujahrsfest nach Lhasa reiten würden. Shelo hatte mit den Vorbereitungen alle Hände voll zu tun, während ich vor Freude kaum zu bändigen war. Endlich kam der Tag der Abreise. Da die Wege nicht sicher waren, begleiteten uns vier
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