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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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und Freude. Alle Musiker trugen Brokatgewänder, weiße Blusen, flache Hüte mit baumelnden Quasten und lange goldene Ohrringe. Eine Gruppe Mönche, jüngere und ältere Männer, schüttelten kleine Schellen. Jetzt prasselten Hufe auf die nassen Steine. Die Reitpferde der »Schappes« – der Ratsteilnehmer – und der hohen Beamten waren mit Decken aus Samt und Brokat bedeckt.
    Ihre Sättel waren aus feinstem Leder, das Zaumzeug mit Gold geschmückt. Die Pferde wurden,von jüngeren Beamten am Zügel geführt. Die Gewänder der Adeligen wetteiferten um den höchsten Glanz. Matte und schimmernde Seide. Silber und Goldfäden.
    Buntbestickte Stiefel aus weichem Leder. Kostbare Schmuckspangen, goldene Kopfbedeckungen. Die Reiter bewegten sich wie ein lebender Fries, zwischen Licht und Schatten. Das dauerte endlos. Welch ein Aufwand! Welch ein Prunk! Ich schaute aufgeregt dahin und dorthin. Die Menschen beugten die Stirn, doch viele taten es lächelnd. Die Adeligen übten Macht aus, keine Tyrannei; das tibetische Volk war unzeitgemäß ehrfürchtig, aber weder servil noch apathisch. Es unterschied sehr wohl zwischen den Göttern und ihren Stellvertretern, erfand Spottverse und übte Kritik.
    Das Schicksal war nie so eng, daß es Mißgunst aus einfachen Seelen preßte. Dieselben Sitten galten bei arm und reich, und zwischen den Aristokraten und dem Volk wirkten ausgleichend die Zünfte. Der Glaube kam nicht von oben, sondern aus dem Herzen der Menschen.
    Das war es, was die Chinesen nie begreifen konnten: die natürliche, reine Flamme der Religion. Sie reduzierten die Kraft unseres Glaubens zu Rückständigkeit und nannten sie Demagogie.
    Der Trommelklang entfernte sich; die murmelnden Gebete verklangen. Der Griff meiner Mutter wurde fester; ich spürte ihre steigende Erregung, als die persönliche Umgebung des Dalai Lamas in Erscheinung trat: der Kämmerer, der Mundschenk, die 261
    Intendanten, die Gelehrten. Ich flüsterte an Shelos Ohr: »Kommt mein Vater jetzt?«
    Sie nickte, ihre Wange an die meine gepreßt. Ungeheure Stille breitete sich aus - jene Keimstille, die aufkommt, wenn der Mensch überwältigt seine eigene Seele erlauscht. Meine spähenden Augen glitten über die Masse der verzückten Gesichter. Mein Vater! Wo mochte er sein? Da erstarrte mein Blick: Eine goldgelbe Riesenblüte schwamm auf dem Gewässer der Nacht. Langsam glitt sie heran, ließ alle Gesichter in zartem Schimmer erglühen. Jünglinge trugen eine Sänfte, die größte, die ich je gesehen hatte. Ein kräftiger Mönch ging voran, hielt einen Schirm aus Pfauenfedern, der im Luftzug erzitterte. Alle standen tief gebeugt und unbeweglich, die Hände vor der Stirn gefaltet. Auch die adligen Damen an den Fenstern beugten das Haupt, so daß sie mit ihrer Haartracht das Fenster berührten. Die Dienerinnen drückten die Köpfe der Kinder sanft, aber nachdrücklich hinunter. Meine Mutter jedoch stand aufrecht. Ihr Atem ging keuchend. Vor der Sänfte ritt auf einem ruhigen Pferd der Lontschen, der Herold Seiner Heiligkeit, der ein Gewand nach mongolischer Art und einen Hut mit goldenen Seidenbändern trug.
    Die Sänfte war von einer Gruppe von sechs hochgewachsenen, breitschultrigen Mönchssoldaten umgeben. Die persönliche Leibgarde Seiner Heiligkeit.
    Die Sänfte kam näher, glitt lautlos vorüber, wie ein Traum.
    Zwischen den dottergelben Vorhängen erblickte ich ein feines Profil, mit einem schwebenden Lächeln darauf. Eine Hand, so zart wie die eines Mädchens, segnete die Menge. Neben der Sänfte schritt, mit Gewehr und Peitsche bewaffnet, ein einzelner Mönchssoldat. Er wirkte wie ein Riese, ein Wächter des Himmels; sein Gesicht war golden wie Feuer, jung und streng. Und jetzt tat meine Mutter etwas Ungeheuerliches. In der ehrfürchtigen Stille erklang ihre Stimme rauh und klar – die Stimme einer Schamanin eben.
    »Sieh, Tilen! Hier ist Atan, dein Sohn.«
    Und indem sie das rief, hob sie mich mit ihrer ganzen Kraft empor, so daß der Soldat mich sehen konnte. Und er – mein Vater –
    verlangsamte seinen Schritt, blickte in unsere Richtung. Noch heute entsinne ich mich, wie sich der Blick meines Vaters in mein Herz bohrte. Alles leuchtete in ihm in diesem Augenblick; goldenes Licht schien aus seinen Augen, aus seinem Antlitz zu strahlen. In diesen wenigen Sekunden – solange die Sänfte, in feierlichem Schritt getragen, an uns vorbeischwebte – sah ich die Liebe, die Freude und 262
    den tiefen Schmerz auf seinem Gesicht. Sein Mund öffnete

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