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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Wucht auf mich zu. Ich verstrickte mich in einem Gewirr von Ästen, Zweigen und Eisbrocken. Ein Baumstamm wirbelte mir entgegen. Ich preßte mich dicht an das Pferd, doch vergeblich. Dann hörte ich ein dumpfes Krachen. Ein Lichtstrahl zuckte auf, ein ungeheures Rauschen erfüllte meinen Kopf. Und dann war nur noch Dunkelheit und Stille.
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45. Kapitel

    P lötzlich wurde ich wach. Mein Kopf schmerzte, rötliches Licht flackerte vor meinen Augen. Für einen Augenblick glaubte ich zu träumen. Ich lag warm und bequem, war in Schafsfelle gewickelt.
    Ich hörte Stimmen, sah Schatten, die sich bewegten. Im matten Feuerschein eines Ofens sah ich das Gesicht einer Frau, die sich über mich beugte. Sie war nicht mehr jung, ihr Haar war bereits grau. Aus ihrem Gesicht blickten klare, sanfte Augen, und an ihrer Wollschürze klingelten kleine Glöckchen. Nun tauchte auch das Gesicht eines jungen Mannes auf. Die Ähnlichkeit der beiden war unverkennbar. Noch bevor ich etwas sagen konnte, hielt mir die Frau einen dampfenden Becher an die Lippen. Ich trank gierig. Beide nickten zufrieden, und der junge Mann sagte:
    »Wir haben dich aus dem Wasser geholt.«
    Ich blinzelte. Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück.
    »Mein Hengst?« fragte ich.
    »Sorge dich nicht, auch ihm geht es gut«, erwiderte die Frau.
    »Und wem kann ich für all diese Güte danken?« fragte ich.
    »Ich heiße Tseten«, sagte die Frau. Sie deutete auf den jungen Mann. »Lobsang, mein jüngster Sohn, trug dich auf seinen Bärenarmen aus dem Fluß. Das Wasser hatte dich auf eine Sandbank geworfen.«
    Lobsang lachte schallend. »Tatsächlich verdankst du deine Rettung deinem Hengst. Er lief am Ufer hin und her und wieherte. Zuerst wollte er mich nicht in seiner Nähe haben. Erst später ließ er es zu, daß ich ihn trockenrieb und fütterte.«
    Ich dankte innerlich meinem treuen Gefährten. Wahrscheinlich hatte Lobsangs Hand nach mir gerochen; deshalb hatte Bak ihm erlaubt, ihn zu berühren.
    Tseten sagte: »Du wirst nun gut schlafen und morgen wieder reisen können.«
    Ich schüttelte den Kopf; das Hämmern in meinem Schädel wurde heftiger. Schlafen? Unmöglich! Ich sagte, daß ich in Lhasa erwartet wurde und sofort weiterreiten mußte. Mutter und Sohn tauschten einen betroffenen Blick.
    »Laß dich warnen! « rief Lobsang. »Weißt du denn nicht, daß die Chinesen Seine Heiligkeit entführen wollen? Das Volk greift zu den Waffen. Zu Tausenden strömen sie zum Norbulinka-Palast. Alle sind 348
    bereit, Seine Heiligkeit mit ihrem Leben zu schützen.«
    Es beginnt, dachte ich. Es hat schon begonnen. Ich wiederholte, daß ich fort müßte. Meine Gastgeber beugten sich meiner Forderung.
    Sie mußten erkannt haben, daß ich zu den Rebellen gehörte, und stellten keine Fragen. Doch Tseten sagte:
    »Warte, deine Kleider sind naß. Du bist müde und hungrig. Bleib bis zur Stunde des Vogels und laß dich pflegen.«
    Wollte ich meinen Auftrag ausführen, mußte ich meine Kräfte schonen. Ich dachte auch, daß ich in der Nacht gefahrloser würde reiten können. Und so dankte ich meinen Gastgebern, schloß die Augen und sank in tiefen Schlaf.
    Zur verabredeten Zeit weckte mich Tseten. Ich fühlte mich wieder ganz wohl, und jede Minute war jetzt kostbar. Ich trank einen Becher Tee nach dem anderen, verschlang bis auf den letzten Bissen den heißen Weizenfladen mit Salz und Butter, den die Frau auf der Feuerstelle für mich gebacken hatte. Meine Kleider waren inzwischen trocken; die durchnäßten Stiefeln würden sich durch die Körperwärme bald dehnen. So nahm ich Abschied von Mutter und Sohn.
    Am nächsten Morgen erreichte ich Lhasa. Es war der 8. März 1959. In meiner Erinnerung lebte eine goldglitzernde Märchenstadt, getaucht in Zauberlicht. Die Wirklichkeit war eine Stadt in Alarmbereitschaft, voller Lärm und Gestank. Ein starker Wind wirbelte Staub auf, Militärfahrzeuge patroullierten. Tausende strömen zum Norbulinka,
    zum »Edelsteingarten«, dem
    Sommerpalast Seiner Heiligkeit. Frauen und Männer trugen Plakate und Spruchbänder mit antichinesischen Aufschriften. Die Menge schrie, das Chaos war ohrenbetäubend. Unweit des Linkhors fand ich eine Frau, die gegen Bezahlung bereit war, mein Pferd auf ihrem Hof unterzubringen.
    Ich versteckte mein Haar unter der Pelzkappe und bahnte mir einen Weg durch die aufgebrachte Menge. Wenn ich einen Rebellen sah, tauschte ich mit ihm die heimlichen Erkennungszeichen und fragte nach Osher. Man führte mich zu einem Lager

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