Die Tibeterin
»Aber auf jeden Fall nicht mit leeren Magen.«
Er legte mir eine Glücksschärpe um den Hals. Dann ging ich in den Speiseraum und verzehrte schweigend den Gerstenbrei, den man eigens für mich mit einigen Fleischbrocken angereichert hatte. Die Henkersmahlzeit, dachte ich bitter. Ich würgte jeden Bissen hinunter.
Mein Magen war kalt.
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Ich ritt damals einen robusten Schimmel, dessen Stirn bis unter die Augen gleichmäßig schwarz war. Deswegen hatte ich dem Tier den Namen Bak – Maske – gegeben. Da der Hengst einen anstrengenden Ritt vor sich hatte, mischte ich Tsampa mit Butter und Teeblättern und fütterte ihn aus einem Eimer. Als ich den Sattel festschnallte, kam Asuktsang in den Hof. Er prüfte eigenhändig meine Pistole und gab mir Patronen. Er riet mir, die Waffe gut zu verstecken. Sein dunkles Gesicht schien seltsam bewegt. Auf einmal sagte er:
»Hier ist mein Messer. Trage es.«
Meine Kehle wurde eng. Ich nahm die lange, dünne Klinge und spürte sofort die Harmonie von Griff und Messer. Es war eine wunderbare Klinge, in Indien angefertigt; sie schien in meiner Hand zu leben. Ich legte das Messer zuerst an meine Stirn, dann an meine Brust. Vor Ergriffenheit brachte ich kein Wort über die Lippen. Ich spürte sein Vertrauen wie eine Last auf mir liegen, doch es war eine Last, die ich tragen konnte.
Der Kommandant gab ein Zeichen. Zwei Mönche zogen die hölzernen Torflügel auf. Asuktsang stand, in sein schwarzes Wolfsfell gekleidet, mit verschränkten Armen in der Dunkelheit. Ich schwang mich in den Sattel, hob den Arm zum Abschied und ritt davon.
Es war Neumond und stockdunkel. Manchmal prasselte ein Regenschauer herab, doch das natürliche Fett meines Schafsfells schütze mich vor der Nässe. Zwischen Fels und Abgrund führte der Weg hinauf und hinab, doch Bak, unbeschwert und leichtfüßig, setzte seine Hufe auf Stellen, die kein Mensch geahnt hätte. Der Pfad wurde ständig schmaler und führte in die Tiefe. Ich konnte gerade noch den nickenden Kopf des kleinen Hengstes sehen, die wippenden Ohren.
Irgendwann hörte der Regen auf, aber ich merkte es lange Zeit nicht, da so viel Feuchtigkeit von den Zweigen tropfte. Endlich kroch eine matte Dämmerung hervor, und bald wurde das Winterlicht heller. Der Felsabhang fiel in steilen Stufen in die Ebene hinab. Von Süden her floß wie ein großes, gelbes Band der Kongka-Chu, der in den Brahmaputra mündete, durch das Hochtal. Im aschfarbenen Morgengrauen erkannte ich, wie hoch das Wasser stand, und erschrak. Es kam oft vor, daß der Fluß in einer Nacht stark anschwoll. Was nun? Jede Brücke wurde von Soldaten bewacht. Ich hatte den Fluß schwimmend überqueren wollen, aber das Hochwasser war gefährlich, und ich würde bei der Suche nach 346
einem abgelegenen Übergang viel Zeit verlieren. Doch ich hatte keine Wahl. Ich ließ Bak auf dem Weg über den Hang verschnaufen.
Ein kleiner seichter Bach führte Gletscherwasser; ich ließ das müde Tier etwas trinken, ehe ich ihm das Maul zuband und weiter ritt. Der Tag brach auf; ein feuchter Tag ohne Sonne, voller Nebel. Ich vermied es, durch Dörfer zu reiten. Auch näherte ich mich nicht der Asphaltstraße, die sich als dunkler Streifen bisweilen zwischen den Hügeln zeigte. Das chinesische Militär wachte überall. Meine Kleidung, mein Aussehen würden sofort Argwohn erregen. Ich durfte keinerlei Risiko eingehen. Schon von weitem war das Brausen des Flusses zu hören. Als ich nach langen Umwegen endlich das Ufer des Kongka-Chu erreichte, erwartete mich ein entmutigender Anblick. Die lehmgelben Wassermassen schäumten, führten Wurzeln, Bruchholz und ganze Baumstämme mit sich. Verzweifelt dachte ich an die verlorene Zeit, ritt flußabwärts, bis ich endlich eine geeignete Sandbank entdeckte. So entledigte ich mich meiner Kleidung, bis auf den Lendenschurz, verknotete alles zu einem Bündel auf dem Rücken. Ich lockerte die Sattelgurte, um Bak ein ungehindertes Schwimmen zu ermöglichen, und trieb das Tier ins Wasser. Die eiskalte Strömung erfaßte uns von der Seite mit voller Wucht und riß uns fort. Nach Luft ringend, krallte ich mich am Hals des Pferdes fest. Bak schwamm mit kräftigen Bewegungen auf die Sandbank zu, doch die Strömung war stärker. Ich spürte, wie das Tier unter mir fortgerissen wurde. Plötzlich fegte auf den Wellenkämmen eine schwarze Masse heran. Das Treibholz bildete einen Klumpen, der hoch über meinen Kopf ragte. Der Sog des Wassers schleuderte den Klumpen mit voller
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