Die Tibeterin
am Stadtrand.
Zwischen ärmlichen Jurten und primitiven Hütten waren Leinen gespannt. Stoffe wehten im Wind. Bald würde ein Sandsturm die Stadt in gelbroten Schwaden ersticken; doch vorerst spürte man nur die ersten Anzeichen. In einem zerlumpten Zelt saß ein alter, vierschrötiger Mann mit einem mächtigen Kopf. Seine struppigen Zöpfe waren völlig weiß. Er war in einen zerschlissenen 349
Schafsmantel gehüllt und rauchte eine Pfeife. In der Mitte des Zeltes brannte ein Tonofen, auf dem eine Suppe in einem Kessel brodelte.
Ich begrüßte ihn mit der Ehrerbietung, die ich seinem Rang schuldete. Er betrachtete mich aus schmalen, grauen Augen.
»Setz dich«, knurrte er. »Hast du gegessen?«
»Nein, Herr.«
Ein Junge kam in das Zelt, füllte die heiße Gerstensuppe in Schalen. Wäre ich nicht so aufgewühlt gewesen, hätte ich über die Wortkargheit des Alten lächeln können. Doch Geduld war eine Sache, die mir in den Magars gründlich beigebracht worden war. So schlürfte ich still die heiße Suppe. Nach dem Essen schenkte uns der Junge Buttertee ein. Osher wies ihn hinaus und befahl ihm, nicht zu lauschen und niemanden hineinzulassen. Als wir allein waren, sagte Osher:
»Dein Vater wacht Tag und Nacht vor den Privatgemächern Seiner Heiligkeit. Er läßt niemanden vor, der nicht eine schriftliche Bewilligung des Ministerrats erhalten hat.«
Ich befeuchtete meine Lippen mit der Zunge.
»Ich muß ihn sehen.«
Osher nickte düster.
»Heute abend wird man dich zu einer Stelle führen, wo du über die Mauer kannst.«
Er warf mir einen scharfen Blick zu.
»Was soll ich tun?« fragte ich.
Osher zündete seine Pfeife an. Sein Ausdruck war verschlagen und zugleich belustigt.
»Das werde ich dir gleich sagen. Aber betrachte die Angelegenheit als Geheimnis.«
Ob er jemals selbst im Norbulinka gewesen ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls beschrieb er mir die Grundrisse der Residenz und die Aufteilung der Räume so genau, daß ich sie bald im Kopf hatte.
Man erfuhr am gleichen Tag, daß Seine Heiligkeit nun doch nicht die Theateraufführung besuchen würde. Er hatte es den Chinesen am Telefon mitgeteilt, denn zwischen dem Norbulinka und dem Hauptquartier war eine Direktleitung gelegt worden. »Mein Volk läßt es nicht zu«, soll er schlicht gesagt haben. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Die Menge schrie vor Freude und weinte vor Ergriffenheit. Die Nacht war finster, aber lärmerfüllt. Der Wind trug das Geschrei der Menge aus der Stadt hinaus, und überall bellten Hunde.
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Kurz vor Mitternacht erschien plötzlich ein junger Mönch vor dem Zelt, und Osher befahl mir, mit ihm zu gehen.
Der Sommerpalast befand sich unweit des Kyischu-Flusses. Der Strom stand nie still; in der Monsumzeit bedrohte Hochwasser den Edelsteingarten. Man hatte eine Mauer und kleine Deiche errichtet, die immer wieder fortgespült wurden. Im Park wurde der Lehm mit dem Flußwasser und Yakdung vermischt, Schicht um Schicht zusammengetragen. Hohe Bäume wuchsen hier, Obst- und Nadelbäume und herrliche Blumen. Mitten durch den Park lief eine zweite, gelb getünchte Mauer. Sie erhob sich rund um den Privatgarten und die Residenz Seiner Heiligkeit. Ihre beiden Tore wurden streng bewacht. Nur die vergoldeten Dächer leuchteten, und die Bäume warfen Schatten darüber.
In dieser Nacht kauerten Hunderte von Menschen unter den kahlen Bäumen; kleine Feuer flackerten. Ganze Familien hatten sich mit Decken und Kochkesseln hier niedergelassen. Die Menschen saßen Schulter an Schulter in der Dunkelheit. Nur ihre Umrisse waren sichtbar, und manchmal im Licht der Sterne ein braunes Gesicht, fiebrige Augen und Hände, da und dort auch ein funkelnder Ohrring oder ein Türkis. Die betenden Stimmen erzeugten ein heimliches Raunen, es klang wie das verhaltene Seufzen aller Dinge. Aber in der Ferne kreischten die Lautsprecher der Chinesen, beschwörten das Verhängnis herauf, das man nicht wegbeten konnte.
Der Mönch führte mich zu einem kleinen Gehölz dicht an der Mauer. Er holte einen Gegenstand aus der Tasche seiner Robe und gab ihn mir. Es war ein Seil, an dem ein mit Stoff umwickelter Greifhaken hing. Ich suchte eine geeignete Stelle, an der ich das Seil werfen konnte, ließ es kreisen und warf es über die Mauer. Dann zog ich kräftig an. Ich hatte gut gezielt, der Haken blieb an den Ziegelsteinen hängen und saß fest. Ich packte das Seil mit beiden Händen und kletterte an der Mauer hoch. Dann schwang ich mich über den
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