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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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gekommen?« schnaubte der Pockennarbige. Ich hielt es für das Beste, ihm die Wahrheit zu sagen, was sich als Fehler erwies.
    »Durch ein Fenster.«
    Sie erstarrten, doch nur für eine Sekunde. Seine Heiligkeit mochte mir das Sakrileg verzeihen, die Wachen aber gerieten in Weißglut.
    Sie waren vollkommen von Sinnen. Am meisten brachte sie in Zorn, daß ich sie überlistet hatte. Schnell wie eine Katze wich ich einem Stock aus, der nach meinem Kopf schlug. Doch von der anderen Seite traf mich ein Kolbenschlag zwischen den Schultern, und ich hustete mir fast die Lunge aus den Leib. Es hatte wenig Sinn, mich zu wehren. Verdammt, sie hätten sich lieber selbst verprügeln sollen!
    In diesem Augenblick wurde eine Tür aufgerissen.
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    »Was geht hier vor?« fragte eine Stimme.
    Sie klang zornig, aber verwirrend tief, mit dem kehligen Tonfall der Nomaden. Die zupackenden Hände ließen von mir ab. Mein Vater stand vor mir; und von dieser Sekunde an hatte ich nur Augen für ihn. Er kam mir noch größer vor, als ich ihn in der Erinnerung gehabt hatte, denn er war kräftiger geworden und trug statt der Mönchsrobe die Uniform. Gedanken und Gefühle glitten wirr durch meinen Sinn, und mein Herz schlug bis zum Hals, während ich die Hände in der Geste des Respekts faltete. Er indessen starrte mich an.
    »Er sagt, daß Asuktsang ihn schickt«, knurrte der Pockennarbige.
    Mein Vater nickte ihm zu, fast geistesabwesend, ohne die Augen von mir abzuwenden.
    »Es ist gut. Ihr könnt gehen.« Zu mir sagte er:
    »Komm, Atan.«
    Ich folgte ihm in einen kleinen, schlicht eingerichteten Raum. Tilen legte kurz den Finger an die Lippen.
    »Sprich leise. Seine Heiligkeit hat lange gebetet. Die Ruhe, die er gefunden hat, braucht er.«
    Im Zimmer befand sich eine große Sitzbank, die als Lager diente.
    Butterlampen leuchteten vor einem kleinen Altar aus Walnußholz.
    Auf dem Gesicht meines Vaters hatte ein hartes Leben Spuren hinterlassen. Dunkle Schatten lagen um seine Nasenflügel und um die Augen. Um den Mund hatten sich tiefe Falten gebildet.
    Forschend musterte er mich unter dunklen Brauen, bevor er nach einer Weile das Schweigen brach.
    »Du bist so groß, wie ich es war in deinem Alter. Und du wirst noch wachsen. Es ist nicht immer leicht, wenn man die Größten um einen halben Kopf überragt.«
    Er lächelte ein wenig. Ich erwiderte nichts. Mein Geist war wie gelähmt. Sein Lächeln verschwand:
    »Was hast du mir zu sagen?«
    Ich ließ die Arme hängen, unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen. Tilen runzelte die Stirn.
    »Es betrifft deine Mutter, nicht wahr? Was ist es also? Laß es mich wissen!«
    Ich erschrak, ich konnte nicht weinen, nicht einmal jetzt.
    Ich öffnete den Mund und begann zu sprechen. Die genauen Worte sind mir entfallen. Das Gesicht meines Vaters wurde starr wie Stein.
    Die Wahrheit ist manchmal so bitter, daß sie starke Menschen stärker macht. Doch da begegnete mein Blick seinem Blick. Und ich 354
    sah, daß seine Augen voller Tränen schimmerten, während die meinen brannten, aber trocken blieben. Unser Blicke hielten einander fest, lange Zeit.
    Er sagte heiser:
    »Mein Sohn, laß es dich nicht reuen. Du hast getan, was richtig war.«
    Ich zitterte bis in die Fingerspitzen.
    »Vater?«
    »Ja, Atan?«
    »Vergib mir ihr Blut!«
    »Sie gab dir ihren Segen.«
    »Aber du, Vater?«
    »Ich sage: Es war deine Pflicht. Du hast ihre Ketten gebrochen.«
    Er bewegte sich auf mich zu, schwerfällig wie ein alter Mann, legte beide Hände auf meine Schultern.
    »Sie war geboren, um als Heldin zu sterben. Dein Schicksal war es, ihr beizustehen, als sie dich am nötigsten brauchte. Du trägst eine Wunde in dir; eine Wunde, die niemals heilen wird. Trage sie mit erhobenen Haupt! «
    Seine Worte klangen tief in mir. Eines Tages vielleicht würde ich sie als Trost empfinden. Aber nicht einmal dessen war ich mir sicher.
    Er murmelte jetzt wie ein Mann, der im Schlaf spricht.
    »Mein Leben steht im Dienst Seiner Heiligkeit. Aber mein Herz gehört nach wie vor ihr, der Herrin der Pferde. Ich würde ihr Antlitz nicht vergessen, selbst wenn ich zehntausend Jahre in Dunkelheit zubringen müßte. Und etwas in deinem Gesicht, Atan, erzählt mir von ihr… «
    Er verstummte; ich sah auf seinen leidenden Mund und spürte seine Gedanken, wie er die meinen spürte. Schließlich straffte er sich. Es war jetzt etwas Neues an ihm. Eine Stille und eine Macht.
    »Komm, mein Sohn. Wir müssen jetzt tun, was getan werden muß.
    Asuktsang

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