Die Tibeterin
Rand und sprang geräuschlos auf der anderen Seite ins Gras. Ein paar Minuten lang hockte ich auf den Fersen und wartete, daß sich der Schmerz in meinem Nacken beruhigte. Vereinzelte ferne Schreie und Schüsse drangen in die verwunschene Dunkelheit wie ein Echo aus einer anderen, bedrohlichen Welt. Und doch schien dieser gefährdete Garten mit seinen glücklichen Tieren für alle Ewigkeit in flüsternden Frieden eingebettet zu sein. Ich kroch im Schutz der Gebüsche bis zu den hölzernen Zierbalkonen heran. Die Ostwand lag in tiefem Schatten. Eine Fensterreihe befand sich zu 351
ebener Erde; hier lag die große Audienzhalle, wo sich bei Feierlichkeiten Beamte, Lamas und ausländische Gesandte einfanden. Vorsichtig richtete ich mich auf und spähte hinein. Im Licht der großen Kronleuchter schillerten die Rollbilder wie lebendiges Gold. Durch die Scheiben sah ich Mönche und Beamte aufgeregt kommen und gehen. Nach einer Weile trat eine Gruppe Menschen nach draußen.
Ich hörte, wie Türen zugeschlagen wurden, dann die Geräusche abfahrender Wagen. Lange Zeit kauerte ich im Dunklen und wartete.
Um Mitternacht erloschen die Lichter in den Räumen. Nur die Privatgemächer Seiner Heiligkeit im oberen Stockwerk waren noch erleuchtet. Jetzt war es an der Zeit, zu handeln.
Unterhalb des Balkons entdeckte ich ein schmales Sims, das zu den anderen Fenstern und dann weiter um den Palast herumführte. Ich kletterte hinauf und erreichte einen Mauervorsprung, auf dem ich stehen konnte. Dann zog ich Shelos kleinen Dolch hervor, schlug mit der Spitze kurz und heftig an die Scheibe. Sie zerbrach sofort; ich wartete ein paar Sekunden mit klopfendem Herzen. Nichts rührte sich. Tastend schob ich den Arm durch die Öffnung, fand einen Riegel, zog ihn zurück. Das Fenster öffnete sich knarrend, doch der Wind übertönte jedes Geräusch. Vorsichtig kletterte ich hinein. Zum ersten Mal spürte ich, in welch irrsinnige Lage mich die Umstände gebracht hatten. Das Gefühl, heimlich wie ein Verräter in das Wohnhaus Seiner Heiligkeit eingedrungen zu sein, erfüllte mich mit Scham und Schrecken. Noch während ich überlegte, was als nächstes zu tun war, hörte ich Schritte. Ich warf mich hinter eine Säule. Ein junger Mönch schlurfte die Treppe hinunter; er trug einen großen Zinnkrug mit Tee. Ich hörte seine hastigen Atemzüge. Als er an mir vorbeilief, sprang ich hervor, drückte ihn an die Wand und hielt ihm Asuktsangs Messer an die Kehle. Der Mönch zog zischend Luft ein.
Seine Augen weiteten sich vor Panik. Zum Glück hatte er den Krug nicht fallengelassen.
»Beweg dich nicht.« flüsterte ich. »Versuch nicht, um Hilfe zu rufen! Sei ruhig, und dir wird nichts geschehen.«
Er nickte.
»Der Kommandeur… Wo ist er?«
Der Mönch stammelte, daß der Befehlshaber vor dem Wohngemach seiner Heiligkeit wache.
»Komm mit!«
Der Mönch schluckte würgend, setzte sich taumelnd in Bewegung.
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Wir gingen den Korridor entlang, stiegen eine kleine Treppe hinauf.
Unvermittelt erklangen Stimmen und Schritte. Stufen knarrten. Es mußte gerade Wachablösung sein: Männer kamen die Haupttreppe empor, um Posten zu beziehen. Ich zog den Mönch weiter; auf einmal schwang eine Tür auf. Mit gezücktem Gewehr stellte sich mir ein Wächter entgegen. Er mußte ein verdächtiges Geräusch gehört haben. Hinter ihm, in einem spärlich erleuchteten Raum, sprangen Schatten auf und umringten mich. Ich ließ den Mönch los; er stieß einen winselnden Laut aus, duckte sich und rannte davon. Die Wachen packten mich von allen Seiten. Sie rissen mir den Dolch aus der Hand, drückten mir die Mündungen ihrer Gewehre in die Nieren.
Ich würgte die Worte hervor, während sie mir die Arme auf dem Rücken verdrehten.
» Asuktsang schickt mich… zum Kommandeur. Ich muß ihn sehen! Es ist wichtig!«
Alles, war mir zuteil wurde, waren Prügel, wilde Blicke und scharfe Worte. Ein Pockennarbiger herrschte mich an:
»Immer ruhig, Kleiner! Vielleicht sagst du uns erst mal, wer du bist?«
»Ich bin Atan, sein Sohn.«
Sie ließen von mir ab. Ich blickte in dunkle Khampagesichter und entspannte mich, was den Männern nicht entging. Doch sie zögerten immer noch. Sie wußten offenbar nicht, ob sie mir glauben sollten.
»Warte!« zischte ein Soldat. »Keine Bewegung!«
Sie stießen mich an die Wand und durchsuchten mich. Sie nahmen mir das Messer, die Pistole und das Seil mit dem Greifhaken ab. Ich leistete keinen Widerstand.
»Wie bist du in den Palast
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