Die Tibeterin
schließen. Sie redeten von einer besseren Welt, während sie die Welt zerstörten. Aber eines Tages würden ihre Herrschaft, ihre Gewalt sich wie Rauch am Himmel auflösen, denn die Schöpfung war größer als die Menschen, unbesiegbar.
Bei Nachtanbruch rasteten wir unter einer kleinen Anhöhe, die uns vor dem beißenden Wind schützte. Atan führte mich dicht an den Rand einer Felswand. Ein dünnes Rinnsal glitt über abgeschliffenes Gestein und floß in ein kleines, natürliches Becken. Im Laufe der Jahrhunderte hatte das Wasser die moosbewachsenen Wände geglättet, daß sie wie Keramik schimmerten. Ringsum wuchsen Krüppelsträucher und erstaunlich kräftige, hochgeschwungene Halme. Atan nickte mir zufrieden zu.
»Wir haben Glück. Es kommt vor, daß die Quelle trocken ist. Sie gibt gutes Trinkwasser, aber wir müssen es abkochen.«
Mit steifen Beinen ließ ich mich aus dem Sattel gleiten. Kleine Aschehaufen und Reste von »Zivilisationsabfall« zeigten, daß dieser Rastplatz oft besucht wurde. Wir befreiten die Tiere von Sattel und Zaumzeug und führten sie an das Becken. Der Wasserspiegel lag glatt und ruhig da. Mineralische Beimischungen hatten dem Wasser eine schimmernde Kupfersulfatfarbe gegeben, so daß es dunkelgrün schillerte. Ein Duft stieg aus dem Wasser, frisch, leicht und würzig, als wären alle Gerüche der Gräser, der Blumen und der Bäume in ihm vereint.
»Woher kommt das?« fragte ich Atan verwundert.
»Das sind die Wurzeln und Pflanzen, die im Wasser wachsen.
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Abends, wenn die Luft kalt wird, spürt man den Duft.«
Er führte die Pferde an das Becken und ließ sie etwas trinken, ehe er ihnen das Maul zuband. Dann löste er eine Handvoll Moose aus dem Becken und rieb ihre schwitzenden Flanken ab. Ich wollte ihm dabei helfen. Doch als ich die Hand in das Wasser tauchte, zog ich sie mit einem Überraschungslaut zurück. Ich glaubte, daß mein Arm zu Eis erstarrte. Atan nickte mir zu.
»Das Wasser aus den tiefen Erdschichten erwärmt sich nie.« Ich beugte mich über die grüne Fläche, sah mein Gesicht in ihr wie einen weißen Schatten. War es der kalte Hauch des Wassers? Eine Gänsehaut überlief mich. Ich hatte großen Durst und freute mich auf den Tee, den Atan nun zubereitete. Müde saß ich in meinem Schlafsack, während Atan Wurzelholz suchte, das er zwischen drei Steinen aufhäufte. Er strich ein Zündholz an und machte Feuer. Eine kleine Flamme schoß knisternd empor. Der Rauch duftete würzig.
Erschöpft beobachtete ich, wie er ein Stück von dem Teeziegel zerbrach, die getrockneten Blätter in den Topf warf, wo das Wasser bereits kochte. Aus einem Lederbeutel entnahm er die Butter, die er den Mönchen im Sumpa Khanpo-Kloster abgekauft hatte, warf sie in das kochende Wasser und mischte sie mit Salz. Dann goß er den Inhalt in den Thermoskrug und schüttelte ihn. Die tibetische Angewohnheit, den Tee gesalzen statt gezuckert zu trinken, war keine Geschmacksverirrung, sondern eiserne Notwendigkeit: Das Salz führte dem Körper die in dieser Höhenlage unentbehrliche Flüssigkeit zu.
Atan hatte sein Wolfsfell um die Hüften gewickelt und trug nur seine Tschuba. Die verblichene Rohseide war unglaublich robust, sie hatte sich seinem Körper angepaßt wie eine zweite Haut. Ich betrachtete sein schmales, etwas flaches Profil, seine vollen, sinnlichen Lippen. Der Ritt hatte ihn überhaupt nicht ermüdet. Und gleichzeitig fiel mir die Sparsamkeit und Präzision seiner raschen, elastischen Bewegungen auf. Instinktiv vermied er jede unnötige Kraftverschwendung. Ich staunte immer wieder, wie wandelbar er war. Manchmal ließen ihn die Linien auf seinem Gesicht alt und verbittert aussehen; dann wieder trat ein unerwartet leuchtendes Lächeln auf, so jung wie der Anfang dieser Welt. Ich konnte diese Wesensauszeichnung, die ihn so einzigartig machte, nicht fassen. Ich konnte ihn nur ansehen - und leiden. Ein solcher Mann, dachte ich, wäre überall auf dieser Welt zuhause. Was tut er hier in Tibet? Und doch war er ein Steppenreiter, ein Nomade, ein Mensch aus einer 417
anderen Welt; und er war es aus eigener Wahl, aus eigenem Willen.
»Atan, hast du nie daran gedacht, ins Ausland zu gehen?«
Er nahm eine Tasse, goß Tee aus der Thermosflasche hinein, fügte Tsampa hinzu und reichte sie mir. Wir mischten es mit den Fingern und einem Stück Butter, bis es teigig wurde.
»Der Wind bläst mich dahin und dorthin, wie Distelsaat. Und ich bin anmaßend genug zu glauben, daß ich hier noch
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