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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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verschwinden, und empfand eine seltsame Wehmut dabei, während die Menge in heiterem Schweigen den Ablauf der Zeremonie betrachtete. Die Urne wurde mit Brokattüchern umhüllt, mit einem korbartigen Deckel versehen. Die ranghöchsten Lamas reihten sich zu einer Prozession, die Pilger drängten sich um sie herum. Sie gingen betend den Pfad hinunter, bis zu dem Fluß, der unweit des Klosters zwischen den Steinen dahinfloß. Am Ufer wurde die Urne aus ihrem Brokatkleid befreit; ein letztes Mal sprach der Abt seinen Segen. Unaufhörlich ihre Gebete murmelnd, hoben die Lamas den Deckel und neigten die Urne über die Strömung. Der Sand der Erkenntnis wurde dem Fluß anvertraut, wie die Asche eines Verstorbenen, denn Leben und Tod vereinten sich im Wasser.
    Farbige Kreise, Schleifen und Schnörkel bildeten ein letztes, natürliches Mandala, das sich mit den leichten Wellen vermischte und verschwand. Zurück blieb ein Duftschleier von verbranntem Sandelholz, schwebend über dem Wasser wie ein Atem aus einer anderen, herrlicheren Welt.
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52. Kapitel

    E ine Witwe mit kupferbraunem, gegerbtem Gesicht, die Mutter eines Novizen, gab mir Unterkunft für die Nacht. Dolkars bescheidenes Haus stand unterhalb des Klosters. Da ich Tukten Namgangs Gast war, behandelte mich die alte Dame so zuvorkommend, daß es mir fast peinlich war. Sie bereitete den Buttertee mit Sorgfalt, schüttelte lange den heißen Tee, bis die Butter ganz aufgelöst war und dem Tee eine cremige Dichte gab. Sie hatte ein Wasserbecken für mich bereitgestellt. Ein Stück Seife und ein sauberes Handtuch lagen daneben. Sie erzählte mir, daß ihr Mann zwölf Jahre in chinesischer Gefangenschaft gewesen war.
    »Er war ein kräftiger Mann. Aber als man ihn freiließ, erkannte ich ihn kaum wieder. Er war nur noch Haut und Knochen, hatte das Gehör verloren und fast keine Zähne mehr im Mund. Ein paar Monate später starb er an Typhus«, sagte Dolkar und wischte sich die Augen. Ihr ältester Sohn war nach Nepal geflohen; er hatte dort einen kleinen Laden und schickte ihr Geld. Ehrfürchtig zeigte sie mir ihren kostbarsten Schatz: ein altes, vergilbtes Bild Seiner Heiligkeit.
    Sie bewahrte das Bild in einer Truhe auf, vor einem winzigen Hausaltar; es war immer noch verboten, Bilder des Dalai Lama zu besitzen.
    »Aber ich kann ohne das Bild Seiner Heiligkeit nicht leben.«
    Dolkar hob das Foto ehrfürchtig an ihre Stirn. »Das Bild gibt mir soviel Schutz und Kraft. Ich weiß, daß Seine Heiligkeit stets in Gedanken bei uns ist.«
    Als ich ihr sagte, daß ich den Dalai Lama in der Schweiz gesehen hatte, als er das Kloster von Rikon besucht und an verschiedenen Veranstaltungen teilgenommen hatte, kannte Dolkars Ergriffenheit keine Grenzen. Sie nahm meine Hände und drückte sie, daß es fast schmerzte. Ihre Fragen sprudelten hervor wie ein Wasserfall. Ich mußte ihr ganz genau berichten, wo und wie die Begegnung stattgefunden hatte, bis ich vor Müdigkeit fast umfiel. Schlafen konnte ich nicht viel, denn zahlreiche Pilger übernachteten unter freiem Himmel, tranken reichlich Tschang und lärmten und sangen wie in einer Schweizer Festhütte. Beim ersten Hahnenschrei erwachte ich, und zwar buchstäblich, denn der Hahn und zwei glucksende Hennen übernachteten im gleichen Raum, in einer Kiste.
    Dolkar wagte die Hühner nicht draußen zu lassen; sie hatte Angst, 413
    daß sie ihr in der Nacht gestohlen wurden. Die Zeiten hatten sich geändert, seufzte sie; die Menschen litten Not, und es gäbe viele Gelegenheitsdiebe. Ich bot Dolkar Geld für die Übernachtung an; sie wies es fast entrüstet zurück. Nein, wie käme sie dazu, Geld von mir zu nehmen? Ich hätte Seine Heiligkeit gesehen, sei von ihm gesegnet worden. Jeder Augenblick meiner Anwesenheit sei für sie ein unermeßlicher Schatz. Sie umarmte mich zum Abschied, legte mir eine weiße Glücksschärpe um den Hals. Ihr Kinn zitterte dabei, und ihre Augen standen voller Tränen.
    Bei Sonnenaufgang traf ich Atan vor dem Klostertor. Ein Schwarm Novizen belagerte die hohe Mauer; sie waren alle bemerkenswert schweigsam, ihre Augen glänzten, sie sahen gebannt zu, wie Atan die Pferde sattelte. Die Tiere waren mit Trockenerbsen gefüttert worden und sahen zufrieden und ausgeruht aus. Man hatte sie sogar gebürstet. Ich fragte Atan, was denn die Jungen so beeindruckte. Er erklärte, daß er den Novizen Geschichten aus seiner Jugendzeit erzählt habe.
    »Sie haben das alles nie gekannt und werden es niemals erleben.«
    Er sah

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