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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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gedankenverloren zu ihnen hin. »Sie wissen, daß wir am Anfang einer anderen Zeit stehen. Vom Sinn des neuen Werdegangs verstehen sie nicht viel. Nun, auch andere Dinge lassen die Menschen reifen. Vielleicht helfen ihnen die Götter.«
    Tukten Namgang trat mit schlurfenden Schritten aus dem Tor. Er war noch unrasiert und trug die dunkelrote Alltagsrobe. Wir verneigten uns vor ihm, wie es ihm zukam, dankten ihm für seine Gastfreundschaft. Er legte seine Hand auf mein Haar, und selbst als er sie zurückgezogen hatte, war mir, als fühle ich noch immer, feierlich über mir schwebend, seinen Segen. Atan und der Abt reichten einander die Hände. Sie sprachen kein Wort dabei, tauschten nur einen langen, dunklen Blick, als suchten sie nach einer Botschaft im Herzen. Beide Männer konnten Geheimnisse für sich bewahren. Und so fragte ich Atan nicht, worüber sie am Abend gesprochen hatten. Wir hielten uns nicht länger auf. Die Pilger verließen das Dorf in Scharen; wir wollten die Menge nutzen, um unbemerkt von den PSB-Leuten das Dorf zu verlassen. Die chinesischen Soldaten standen am gleichen Ort wie am vergangenen Tag und sahen den Pilgern zu, die sich mit Maultieren, Pferden oder zu Fuß auf den Weg zu ihren abgelegenen Dörfern machten. Ich hoffte, daß ihnen meine Kleider, die schmutzig, aber von guter Machart waren, nicht auffielen. Doch wir hatten Glück. Die Menge 414
    war zu dicht, als daß die Soldaten jeden ins Auge fassen konnten.
    »Vor ein paar Jahren wollten sie das Fest verbieten«, erzählte mir Atan, als wir die Ortschaft verlassen hatten. »Es brachen Krawalle los, und zwei Soldaten wurden von der Menge gesteinigt. Die Schuldigen wurden hingerichtet. Genickschuß. Aber die Garnison wurde nicht verstärkt, und schließlich durfte die Zeremonie stattfinden. Das Dorf liegt zu abgelegen und hat keine strategische Bedeutung.«
    »Ich habe alles, was ich hier sah, sehr tief empfunden.«
    Er nickte.
    »Ich ebenso. Wir nehmen alle Symbole wahr und gehen mit ihnen therapeutisch um. Eine Zeitlang werden die Menschen wieder zufrieden leben, sagte mir Tukten Namgang.«
    Ich sagte:
    »Bisher verstand ich nicht viel von diesen Dingen. Mein Leben in Europa hat Spuren hinterlassen. Vielleicht sollte ich umdenken.«
    Er zeigte sein schönes, warmes Lächeln.
    »Es gibt ein Sprichwort: Zu derselben Weisheit ziehen Pilger mit verschiedener Geschwindigkeit, von verschiedenen Ausgangspunkten, mit unterschiedlicher Aufbruchszeit.«
    Unsere Blicke trafen sich. Ich seufzte.
    »Ach, bist du auch auf der Reise?«
    Sein Lächeln verschwand.
    »Wir sind ein Volk in der Falle der Geschichte. Es ist nicht gut, in geistiger Abhängigkeit eines Eroberers zu leben. Es mag vorkommen, daß zwei Kulturen zu einer einzigen verschmelzen.
    Nicht aber die Tibeter und die Chinesen. Unsere Kulturen ergänzen sich nicht. Und falls die Chinesen es schaffen, unser Volk so zu schwächen und zu vernichten, daß es vom Erdboden verschwindet, wie sie es am liebsten hätten, nun, so lehrt uns die Geschichte, daß unser Schicksal kein Einzelfall ist.«
    »Die Chinesen sehen sich als Weltmacht.«
    »Ja, sie versuchen sich von der Erde zu erheben, indem sie an ihren Schnürsenkeln ziehen.«
    Ich lachte. Doch er fuhr fort.
    »Der Vorsitzende Mao wollte das Ich töten. Der Mensch sollte im Dienst des Kollektivs stehen. Man kann Ideologien erkennen, die Schiffbruch erleiden werden. Sie tilgen die Farben des Geistes, ersetzen sie durch ein Räderwerk. Wir tragen die Farben in uns wie einen Regenbogen, den keiner zu fangen oder zu fesseln vermag.
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    Woher wüßten wir, wie wir leben sollten, wenn wir nicht an etwas glaubten, das größer ist als wir? Wer würde uns lehren zu leben? Die Kommunistische Partei?«
    Auf dem Weg in Richtung Norden bewahrten das Buschwerk, die Staudengehölze und die Föhren noch die bunten Farben des Herbstes: rot, safrangelb, violett. Darüber ragten wie weiße Träume die Eisgipfel, und noch höher drehte sich das Tageslicht in blauschwingenden Kreisen, genau wie die Adler, die mit ihren schwarzen Schwingen die Schneehänge streiften. Die sich im Wind rührende Kraft erfüllte mich mit Leben; ich empfand die Energie dieser Luft; sie wirkte wie ein Rausch, sie vermehrte meine Kräfte.
    Das wilde Leben der Berge, das Leben der Bäume und Felsen und Tiere war erfüllt von Weisheit und Macht. Menschen, die diese Macht nicht anerkannten, waren in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Sie würden nie Freundschaft mit der Schöpfung

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