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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Ich sagte:
    »Ich… ich habe geträumt.«
    Er schnalzte verärgert mit der Zunge.
    »Früher hörte ich alle Geräusche. Ich werde alt.«
    »Nein. Ich habe mich im Schlaf bewegt, denke ich.«
    »Verdammt, Tara«, knurrte er. »Kommst das oft bei dir vor?«
    »Nur einmal, als ich zehn war. Da fand mich meine Mutter auf dem Balkon, im vierten Stock. Meine Beine baumelten über den Rand. Ich schlief bei ihr im Zimmer. Sie hatte nichts gehört, bloß den Luftzug gespürt.«
    Der Wind schnitt wie ein Messer, er tat mir weh, besonders auf der Brust. Aber das wollte ich ja gerade, echte Schmerzen, das war das richtige jetzt, damit ich wieder zu Verstand kam. Noch immer war die Kälte um mich, so dicht und fest, daß sie mir unter die Kleider drang, unter die Haut. Atan fuhr fort, meinen erstarrten Körper durch den Schlafsack zu reiben. Ich stammelte:
    »Ich… ich habe sie im Wasser gesehen.«
    »Wen hast du gesehen?«
    »Sie!« stieß ich hervor. »Chodonla! Das war sie doch, nicht wahr?«
    Unsere Augen trafen sich. Wortlos stand er auf und schürte das Feuer. Ich verschränkte die Arme. Der Traum war noch erschreckend gegenwärtig. Die Helligkeit nahm zu; der Himmel leuchtete orangegelb. Die prustenden, stampfenden Pferde hoben sich dunkel vom Horizont ab. Atan band ihnen den Futtersack um.
    Dann ging er zu dem Becken, füllte Wasser in den kleinen Kessel.
    »Hat sie gesprochen?«
    Ich richtete mich auf, zog die Daunenjacke an. Meine Stimme klang unwirklich und tonlos in der frostigen Stille.
    »Warte, laß mich nachdenken… Sie hat gesagt… mir ist kalt, wärme mich! «
    Ich stieg in meine Bergschuhe, rollte die Schlafsäcke zusammen.
    Die Bewegung lenkte mich ab; ich atmete tief und fühlte, wie mein Kopf immer klarer und freier wurde. Nach einer Weile setzte ich mich zu Atan ans Feuer, hielt die Hände über die wärmende Glut. Er zerbröckelte Ziegenfleisch, knetete Tsampa zu kleinen Kügelchen, schüttete das Ganze in den kochendheißen Tee und rührte um. Seine Stille beunruhigte mich, bis er mit einer Frage das Schweigen brach.
    »Was hast du noch gesehen?«
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    »Sie hatte ein besonderes Mienenspiel.«
    Atan sah mich mit einem sonderbar aufmerksamen Blick an. Seine Augen wurden schmaler und schimmerten unergründlich. So unbewegt war sein Gesicht, als wäre er aus Granit gemeißelt.
    »Sie tut es oft«, sagte er. »Genauso, ja.«
    Ich spürte ein heftiges Zittern in mir.
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Trink«, sagte er.
    Ich nahm die Tasse, die er mir reichte. Der Tee war so heiß, daß ich mir die Zunge verbrannte. Ich war entsetzt über mich selbst, über den Traum und über die Ängste, die er in mir auslöste.
    »Atan, was hat das zu bedeuten?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wie denkst du darüber? Sag es mir bitte! «
    »Ich denke, daß sie dir ein Zeichen schickt.«
    Seine Augen blickten so fern und dunkel, daß ich erschrak. Ich wollte sachlich bleiben, aber es gelang mir nicht. Ich war zu sehr aus der Fassung gebracht.
    »Glaubst du, daß wir noch rechtzeitig kommen?«
    »Es kann sein, daß es zu spät ist.«
    Seine Worte trafen mich wie ein Schlag.
    »Atan, kannst du Gedanken lesen?«
    »Ich bin ein Zeichenleser.«
    Er erhob sich, eine leichte, federnde Bewegung, und zertrat die Glut. Dann nahm er Sattel und Zaumzeug, schwang sie sich auf die Schultern und ging zu den Pferden. Als wir kurze Zeit später aufbrachen, hörten wir die Vögel singen. Ein tiefes Karminrot färbte die Hänge, Quellwolken glühten. Ich blickte zu dem Ring der Eisberge empor, golden im Frühlicht; weit, weit in der Ferne lag, wie die blaue Mündung eines Flusses, das windgepeitschte tibetische Hochtal.
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53. Kapitel

    W ir hatten den Weg quer durch die Hügel genommen und den Militärposten Tingri hinter uns gelassen. Schnurgerade verlief die Straße nach Lhasa. Die Sonne blinkte auf den Windschutzscheiben der Lastwagen, Busse und Militärjeeps, die Staubfahnen hinter sich herzogen. In den Lastwagen saßen chinesische Soldaten. Gruppen von Arbeitern – tibetische Männer und Frauen – bauten Stützmauern, besserten Schlag- und Wasserlöcher aus. Sie bewegten sich wie Schemen. Ihre Gesichter und ihre Kleider waren ebenso weiß gepudert wie die Landschaft.
    »Straßenbaubrigaden«, sagte Atan. »Ihre Arbeit nimmt nie ein Ende. Der Asphalt platzt bei jedem Regenguß.«
    Wir ritten über die schmalen Pfade, die Generationen von Lasttieren an den Berghang gegraben hatten. Krähen segelten über uns

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