Die Tibeterin
Stellen reinigen, bevor der Vajira-Meister für jede Gottheit ein Gerstenkorn niederlegt. So wird das Mandala belebt.«
Der Abt lächelte herzlich, sprach mit besonnener Stimme weiter.
Die letzte Phase der rituellen Vorbereitung begann mit dem Zupfen der »Weisheitsschnur«, die aus fünf verschiedenen Fäden gezwirnt wurde. Die fünf Farben symbolisieren je eine Weisheit Buddhas. Der Vajira-Meister selbst hatte die Ostseite des Mandalas eingefärbt. Erst dann konnten die Mönche von der Mitte her langsam das gesamte Mandala entstehen lassen.
Tukten Namgang nickte mir zu; seine Augen schimmerten heiter und verklärt. Ich dankte ihm, daß er mir das alles deutlich machte; ich wußte viel zu wenig von diesen Dingen. Was hier vor sich ging, berührte mich tief. Das Wort Mandala kommt aus dem Sanskrit und bedeutet »Kreis«. Es war zugleich Bild der geschlossenen Ganzheit und des Universums. Ein Palast der Götter mit vier Toren, Sinnbild der kosmischen Ordnung; und gleichzeitig ein Integrationsweg, eine Darstellung der geistigen Vollendung. Das Mandala stellt die Quintessenz der Welt und der Menschen dar; es wirkte wie ein Labyrinth, in dem sich der Geist verlor. Diese Dinge, dachte ich, müssen unmittelbar erfaßt werden, ohne nachzudenken, denn mit Vernunft kann man ihnen nicht beikommen. Wir brauchen dazu keine Theorien, nur ein Emporschwingen der Phantasie und klare 410
Traumbilder. Ich rieb mir die Stirn. Diese Traumbilder, woher kamen sie, wer hatte sie erfunden? Sie schienen mir so alt wie die Menschheit selbst.
Ja, wir waren gerade rechtzeitig gekommen und erlebten, wie das Mandala vollendet und belebt wurde. Dann trug eine Gruppe von Lamas die heiligen Vasen mit den Gaben für die zwölf Opfergöttinnen herbei; zwölfmal umkreisten sie mit lautlosen Schritten das Mandala, und zwölfmal sprach der Abt seinen Segen dazu. Nachdem man die Opfer dargebracht hatte, traten Tänzer in alten, kostbaren Brokatgewändern in Erscheinung. Wie vergilbt und zerschlissen die Stoffe auch sein mochten, sie schillerten bei jeder Bewegung im wechselnden Spiel des aufgefangenen Lichtes. Die Tänzer trugen Kronen, mit Juwelen besetzt, die zweifellos noch echt waren. Auf ihren braunen Gesichtern lag eine Verzückung, die aus tiefstem Herzen kam. Da niemand sich rühmen konnte, eine Gottheit leibhaftig vor sich gesehen zu haben, verlieh ihnen die menschliche Phantasie mannigfaltige Aspekte, kleidete sie in reiche Gewänder, oder ließ sie nackt und vergoldet in der Sonne leuchten. Das alles war nichts; wichtig war, was die Seele empfand, wenn sie zum Gefäß der Gottheit wird. Die Luft vibrierte vom Doppelklang der Trommeln und Zimbeln. Ich glaubte, in einem Ozean zu schwimmen, in einem Ozean der Sonne, der Musik, des goldenen Lichtes. Die Tanzenden ließen sich von den Instrumenten tragen, umkreisten das Sandbild in langsamen, sich drehenden Bewegungen.
Sie verwandelten sich selbst in ein Mandala; ihre Schritte und Gesten zeichneten das Symbol, vermenschlichten es. Die Initianten, alle mit dem roten Kopfband versehen, schlossen sich dem Reigen an. Das Kopfband veranschaulichte ihre geistige Blindheit, bevor sie das Mandala von der Ostseite her in Gedanken betraten. Mitgezogen und gelockt von den Stimmen und Bewegungen, wanderten sie durch den kosmischen Tempel. Ihr Besuch war mit keiner Fürbitte verbunden; er diente nur der Verzückung, der heiteren Kommunion mit den Göttern. Mit jedem Anruf, mit jedem Schritt entfalteten sich die Flügel, die sie durch Raum und Zeit trugen, dem Geheimnis entgegen. Sie bildeten sich nicht ein, das Rätsel lösen zu können. Sie besuchten nur ein Haus, dessen Tore sich von Morgenrot zu Morgenrot öffneten, und fühlten sich erquickt und gestärkt. Doch so wie im Herzen des Lebens der Tod lauert – der Tod, der nie ein Ende ist, sondern ein ewiger Kreislauf, ein Neuaufgang –, so war auch das Mandala vergänglich. Es hatte seinen Zweck erfüllt, den Menschen 411
eine Ahnung der Ewigkeit verliehen. Das rote Kopfband wurde gehoben von den Händen, die es gewoben hatten. Und keiner würde sich beklagen, die Blindheit gekannt zu haben, jetzt, wo seine Augen sahen. Dann wurde das Kunstwerk zerstört, auch das gehörte dazu.
Die Mönche, die das Mandala geschaffen hatten, strichen mit einem Pinsel den farbigen Sand behutsam zusammen. Sie hoben ihn in den Handflächen hoch und füllten ihn in eine große, silberne Urne. Ich sah die Farben sich vermischten, das Muster sich auflösen, das Bild
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