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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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verstand ihn nicht.
    »Was willst du damit sagen?«
    »Der Überlieferung nach gehen Dämonen niemals im Zickzack, immer nur den geraden Weg.«
    »Im übertragenen Sinn?«
    Er nickte.
    »Es läßt sich kaum in Zweifel ziehen.«
    Wir lachten, aber wir fühlen uns elend. Unweit der Straße wandte sich der Tsangpo wie ein blaugrünes Reptil, glitt langsam und stetig nach Osten. Schluchten öffneten sich wie die Einschnitte eines Riesensäbels. Der Fluß schäumte tief im Schatten oder unter Felsen, prall von der Sonne beschienen. Der ständig wehende Westwind hatte Dünen gebildet, bleiche Hänge, an denen der Sand bald sirrend flirrte, bald röhrend dröhnte. Hier und da ritten wir an Ruinen vorbei, aufgereckt wie Raubtierzähne, oder bereits der Erde wiedergegeben, zu Stein geworden, zu Staub zerrieben, fast schon unsichtbar.
    Nachts rasteten wir unter einem Felshang, an einer Stelle, an der kein Stein fallen konnte. Wir preßten uns aneinander in der Enge des Schlafsacks, lagen Stirn gegen Stirn, bis uns der Kummer die Augen schloß. Unsere Umarmung war die stille Begegnung zweier Menschen, die den Tod kennen und den Schmerz teilen. Über uns kreisten Nebel, sprühten die Sterne. Manchmal fauchte der Wind, manchmal wehte Schnee, wir wurden naß bis auf die Knochen. Es hatte kein Ende, wir waren müde, wir waren in Eile, wir mußten weiterreiten, immer weiterreiten. Die Zeit drängte; es konnte nur eine Frage von Tagen sein, bis Schneefall einsetzte und die Bauarbeiten am Kraftwerk eingestellt wurden.
    »Die Kaderleute bleiben nicht lange«, sagte Atan. »Sie verdienen viel Geld, aber das Klima macht sie neurotisch.«
    Und wenn wir in Shigatse waren, was dann? Wir lebten in einer Welt bedrückender Schwierigkeiten, wir suchten eine Tür und verirrten uns in Sackgassen.
    »Wir sind beinahe da. Was sollen wir tun, Atan?«
    »Da stehen so einige Dinge im Weg.«
    438
    »Ich könnte mit Sun Li sprechen. Ihm sagen, daß Kunsang meine Nichte ist… «
    »Es geht nicht, Tara. Sun Li hat gesetzlich das Sorgerecht.«
    »Aber wenn er sieht, daß das Mädchen eine Familie hat… «
    »Glaube mir, es ist aussichtslos. Und es liegt nicht einmal am bösen Willen. Du hältst dich illegal im Land auf. Du wirst automatisch verdächtigt. Und bist mit einem Mann unterwegs, der ganz oben auf der schwarzen Liste steht.«
    Ich lachte unfroh.
    »Natürlich ist das schlimm.«
    »Ich würde sagen, gefährlich.«
    »Chodonla hat nie gewollt, daß Kunsang nach China geht! «
    »Chodonlas Meinung zählt hier nicht. Sie war eine
    »Risikoperson«, für chinesische Maßstäbe eine schlechte Frau und obendrein todkrank. Sun Li meinte es ehrlich. Er glaubte, Kunsang geradezu gerettet zu haben. Daß er seinen Kindern nachtrauert, sieht jeder ein. Es war eine abscheuliche Sache damals – und leider typisch. Seine Frau ist nicht mehr jung.
    Wer weiß, mit welchen Mitteln sie behandelt wurde? Sun Li hofft offenbar, daß sich ihr Zustand dank der Kleinen bessert. Mit seinem Anliegen kam er bei den Behörden sicherlich gut an. Weil es ihrer politischen Linie entspricht. Sie planen schon jetzt, Kunsang später nach Tibet zurückzuschicken und im Rahmen der »Sinisierung«
    einzusetzen.«
    »Wie Chodonla… « murmelte ich gepreßt.
    »Ja. Man wird aus ihr eine emsige kleine Ameise machen. Ihre Erziehung bringt das am Ende fertig. Sie wird dabei nicht unglücklich sein, aber auch nie als Chinesin empfinden. Und will sie jemals ihre Freiheit erlangen, muß sie sich ihre Seele aus dem Leib reißen.«
    Meine Gedanken gingen im Kreis. Sinnlos, es schien alles so sinnlos.
    »Welche Chance haben wir, Atan?«
    »Keine einzige.«
    Er sprach ausdruckslos, zeigte die Ruhe und den Hochmut eines Felsens. Er machte mich verrückt. Ich bewegte den Kopf nach allen Seiten, um ihn abzukühlen und mir Klarheit zu verschaffen.
    »Wir können Kunsang doch nicht einfach entführen! «
    Ein Funke glomm in seinen Augen auf.
    »Um die Wahrheit zu sagen, dies ist wahrscheinlich die einzige 439
    Möglichkeit.«
    Es verschlug mir buchstäblich den Atem. Du mußt dich beruhigen, sagte ich zu mir. Atans Gelassenheit stand in bestürzendem Gegensatz zu meiner eigenen Erregung. Die Jahre des Umherziehens, der Nachtwachen, der Geduld und der Wagnisse hatten sein Denken geprägt. Zwangsläufig war das so, und ich mußte mich damit abfinden.
    »Wie stellst du dir das vor, Atan?«
    Er schwieg eine Weile. Auf seinem Gesicht lag jener erregende Ausdruck von Kühnheit, von Herausforderung und

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